Wie wurde Angusta zugelassen?
Mit der Zulassung von Angusta im September 2021 schien das Problem um Cytotec gelöst: Das Präparat des dänischen Herstellers Norgine enthält Misoprostol in einer passenden Dosierung von 25 Mikrogramm speziell für die Geburtseinleitung. Trotzdem kursieren bis heute Spekulationen, vor allem über den Weg der Zulassung. Auf Social Media heißt es etwa, Angusta sei “offiziell nicht zugelassen” oder habe nur eine Zulassung, “die unter dem Motto ‘passt schon’ läuft”.
Tatsächlich wurde Angusta nicht über eine klassische Zulassungsstudie genehmigt, sondern über eine sogenannte bibliografische Zulassung. Im Normalfall legen Hersteller eigene Studien zu Sicherheit und Wirksamkeit vor. Bei der bibliografischen Zulassung darf auf bereits veröffentlichte wissenschaftliche Daten zurückgegriffen werden – in diesem Fall vor allem auf Studien mit Cytotec.
Das geht, da der Wirkstoff in Cytotec und Angusta derselbe ist und seit mindestens zehn Jahren in der EU im Einsatz ist — und seine Sicherheit sowie Wirksamkeit durch Fachliteratur belegt ist. “Das ist ein ganz legaler Zulassungsweg — auch wenn er immer wieder kritisch reflektiert wird”, erklärt Harald Abele vom Universitätsklinikum Tübingen. Ziel sei es, gut erforschte Wirkstoffe nicht noch einmal durch ein jahrelanges und extrem teures Verfahren laufen zu lassen.
Angusta erhielt seine erste bibliografische Zulassung 2017 in Dänemark. Grundlage waren unter anderem eine Analyse von 2014 des Cochrane-Netzwerks, einem internationalen Forschungsverbund, der medizinische Studien systematisch auswertet und deren Qualität bewertet. Und eine zusätzliche PK-PD-Studie, die die Wirkung von Misoprostol im Körper untersuchte. (PK-PD-Studien untersuchen sowohl wie ein Medikament im Körper verarbeitet wird als auch wie es wirkt.) Diese Zulassung übernahmen in den folgenden Jahren fast alle europäischen Staaten – ein gängiges Verfahren über das sogenannte Mutual Recognition Procedure, bei dem ein in einem EU-Land zugelassenes Arzneimittel auf Basis der bestehenden Daten auch in anderen Ländern übernommen wird.
Entscheidend sei, so Abele, dass es sich eben um denselben Wirkstoff handelt: “Misoprostol kennen wir nicht fünf oder sechs Jahre, wir kennen es mittlerweile schon über 20 Jahre in der Geburtsmedizin. Und wir wissen sehr wohl, was diese Substanz kann, welche Potenziale sie hat und welche Nebenwirkungen. Niemand in Deutschland möchte auf dieses Präparat in der Geburtshilfe verzichten und die WHO hat den Wirkstoff Misoprostol in diesem Kontext bewusst auf die Liste der unentbehrlichen Medikamente gesetzt”, so Abele.
Was Studien wirklich zeigen: Ein gut erforschter Wirkstoff
Die Wirksamkeit und Sicherheit von Misoprostol wurde beispielsweise in mehreren Auswertungen des Cochrane-Netzwerks untersucht. Eine Cochrane-Analyse von 2010 zeigte, dass niedrig dosiertes vaginal verabreichtes Misoprostol (25 Mikrogramm alle vier Stunden oder weniger) ähnlich wirksam ist und ein vergleichbares Risiko mit sich bringt wie andere Geburtseinleitungsmethoden. Höhere Dosierungen führten zwar zu einer schnelleren und effektiveren Geburtseinleitung, erhöhten jedoch deutlich das Risiko einer Überstimulation der Gebärmutter. Dies wiederum kann dazu führen, dass das Kind zu wenig Sauerstoff bekommt oder einen Riss in der Gebärmutterwand auslösen.
In einer weiteren großen Cochrane-Analyse aus dem Jahr 2014 wurden 75 Studien mit rund 14.000 Teilnehmerinnen zusammengefasst. Sie kam zu folgendem Ergebnis: Misoprostol – vor allem in Tablettenform – ist im Vergleich zu anderen Wirkstoffen wie Dinoproston oder Oxytocin mit einer geringeren Kaiserschnittrate verbunden.
Die aktuellste Cochrane-Übersicht aus 2021 bestätigt diese Einschätzungen. Die Forscher beobachteten zwar, dass es vereinzelt zu sehr starken oder häufigen Wehen kommen kann – je nach Dosierung bei etwa drei bis sieben Prozent der Frauen. Insgesamt zeigt die Auswertung aber, dass Misoprostol mindestens so effektiv ist wie andere Methoden und wahrscheinlich mit weniger Kaiserschnitten verbunden. Unsicher bleibt laut den Autoren, wie häufig es tatsächlich zu Überstimulationen kommt, weil die vorhandenen Studien dazu klein und methodisch unterschiedlich sind.
Dass Todesfälle oder schwere Komplikationen bei mit Prostaglandinen eingeleiteten Geburten extrem selten sind, zeigt auch eine große Übersichtsstudie, veröffentlicht 2015 im British Medical Journal. Sie fasste 280 klinische Studien mit über 48.000 Frauen zusammen. Das Ergebnis: Todesfälle von Müttern oder Neugeborenen sowie schwere Komplikationen traten so selten auf, dass sich kein statistisch gesicherter Zusammenhang mit Misoprostol oder anderen Methoden der Geburtseinleitung zeigen ließ.
Nebenwirkungen: Was ist über Wehenstürme bekannt?
Neben Kopfschmerzen und Durchfall werden auf Social Media und in Medienberichten vor allem sogenannte Wehenstürme als Hauptnebenwirkung von Misoprostol genannt. Dabei treten mehr als sechs Wehen innerhalb von zehn Minuten auf. Das Kind im Mutterleib bekommt weniger Erholungsphasen zwischen den Kontraktionen und es kann passieren, dass es nicht mit ausreichend Sauerstoff versorgt wird. Für die Mutter sind Wehenstürme extrem schmerzhaft, für das Kind können sie im schlimmsten Fall lebensgefährlich sein.
“Todesfälle sind eine absolute Seltenheit, aber dadurch natürlich nicht weniger dramatisch für die Familie”, sagt die Geburtsmedizinerin Strizek vom Universitätsklinikum Bonn. Im Klinikalltag würden Komplikationen wie Wehenstürme bei einer Geburtseinleitung selten beobachtet. “Eine zu starke Wehentätigkeit und daraus resultierende auffällige Herzfrequenz des Kindes sehen wir mindestens genauso oft bei eigenen Wehen – oder mehr als 12 Stunden nach der letzten Einnahme von Misoprostol, wenn es im Körper eigentlich gar keine Wirkung mehr entfaltet”, so Strizek.
Wehenstürme seien zudem keine spezifische Nebenwirkung von Misoprostol. “Das kann auch bei anderen Prostaglandin-Präparaten passieren und ebenso bei Oxytocin“, so Strizek. Wie häufig Nebenwirkungen auftreten, hänge nicht nur von der Dosierung ab, sondern auch von den individuellen Umständen. Etwa ob bereits eigene Wehen vorliegen oder warum die Einleitung überhaupt begonnen wurde.
Behandlungsfehler
Auch Harald Abele, Leiter des Perinatalzentrums in Tübingen, weist darauf hin, dass übermäßige Wehentätigkeit nicht nur bei medikamentöser Einleitung vorkommt. Damit es gar nicht erst zu gefährlichen Situationen komme, sei eine sorgfältige Überwachung und Dokumentation entscheidend, so Abele: “Es muss genau festgehalten werden, wann die letzte Dosis gegeben wurde, in welcher Höhe und ob genügend Abstand eingehalten ist. Bevor ein weiteres Wehenmittel eingesetzt wird, muss die behandelnde Person sich vorher noch einmal sehr genau vergewissern, dass eben nicht schon bereits in einem aktiven Geburtsprozess erneut ein Wehenmittel eingebracht wird.”
Sonst könne es zu Behandlungsfehlern kommen. Die sollte man getrennt vom Wirkstoff betrachten, sagt Abele: “Daraus ist nicht zu konstruieren, dass wir mit einem hochgefährlichen Präparat arbeiten, sondern zu sagen, hier sind einfach Behandlungsfehler erfolgt.” Fehler können bei jeder Methode der Geburtseinleitung auftreten wie auch bei Geburten ohne Einleitung. “Das kann dann ein Betreuungs- oder Behandlungsfehler sein, aber auch mal ein schicksalhaftes Ereignis, wo niemand etwas dafür kann.”
Daten zu Todesfällen fehlen
Komplikationen wie mütterliche und kindliche Todesfälle sowie schwere Erkrankungen rund um die Geburt werden im Rahmen der gesetzlich vorgeschriebenen Qualitätssicherung erfasst. Sie werden an das Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) gemeldet. Laut Abele zeigen diese Daten seit der Nutzung von Misoprostol zur Geburtseinleitung keinen Anstieg der Todesfälle.
“Und wenn wir jetzt genau den Verlauf der Zahlen ansehen, dann sehen wir überhaupt keine Steigerung. Sondern ein kontinuierliches Absinken”, so Abele.
Andere Fachleute bestätigen insgesamt sehr niedrige Todeszahlen in Deutschland, verweisen jedoch auf Lücken in der Datenerhebung. Dietmar Schlembach, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Pränatal- und Geburtsmedizin (DGPGM), sagt dem #Faktenfuchs, er könne daher nicht beantworten, wie viele Todesfälle bei einer mit Misoprostol eingeleiteten Geburt in Deutschland auftreten — alleinstehend, oder auch im Vergleich zu uneingeleiteten Geburten: In Deutschland gebe es kein ausreichendes maternales Mortalitätsregister.
Laut dem Jahresbericht 2024 des IQTIG zur Geburtshilfe wurden im Jahr 2023 21 mütterliche Todesfälle in Schwangerschaft und Geburt gemeldet. “Bei über 600.000 Geburten ist dies eine sehr geringe Anzahl”, erklärt Brigitte Strizek vom Universitätsklinikum Bonn. Die Sterblichkeit in der Schwangerschaft sei in den letzten hundert Jahren deutlich gesunken und halte sich im letzten Jahrzehnt auf einem insgesamt sehr niedrigen Niveau – auch dank einer besseren medizinischen Versorgung.
Auch kindliche Todesfälle rund um die Geburt seien heute insgesamt selten, so Strizek. Aus dem IQTIG-Bericht lasse sich jedoch nicht ableiten, warum Kinder während oder kurz nach der Geburt sterben. Die Statistik erfasse keine Ursachen, erklärt sie: “Das sind die Fragen, die nicht systematisch aufgearbeitet werden. Das wissen wir einfach nicht”, so Strizek.
Fazit
Der Wirkstoff Misoprostol wird seit vielen Jahren zur Geburtseinleitung eingesetzt. Nach Kritik an dem Medikament Cytotec, das zur Geburtseinleitung geteilt werden musste, wurde Angusta zugelassen, das die passende Dosis Misoprostol enthält. Studien und Geburtsmediziner bestätigen damals wie heute: Richtig angewendet ist Misoprostol sicher und wirksam. Zu den möglichen Nebenwirkungen gehören Wehenstürme, die im Einzelfall schwerwiegend sein können – Todesfälle sind laut Fachleuten jedoch sehr selten, auch wenn die Datenerhebung verbessert werden sollte. Entscheidend seien eine gute Aufklärung, individuelle Beratung und eine sorgfältige ärztliche Überwachung während der Geburtseinleitung.

