Im Hintergrund hohe, schneebedeckte Berge. Im Mittelgrund viel Sand. Vorne merkwürdige hellblaue und giftig-gelbgrüne Platten. Dazwischen weiße und beige Haufen. Kein Mensch weit und breit. Edward Burtynsky fotografiert 2017 den Abbau von Lithium in der Atacama-Wüste in Chile. Lithium ist ein seltener Rohstoff für die in Handys und Elektroautos benötigten Akkus. Der Mensch überformt mit dieser Abbauanlage eine sonst archaische Landschaft.
Dann noch Häuser. Nichts als Häuser, soweit die Kamera schauen kann. Über vier Hügelketten hinweg. Ist das noch Zivilisation oder schon Wildwuchs? Der mexikanische Fotograf Pablo Lopez Luz sagt, Mexiko Stadt befinde sich eigentlich in einem Tal, das reich an natürlichen Ressourcen und Fauna ist. Davon ist auf seinem Foto von 2006 nichts mehr zu sehen.
Und dann ist da noch das Münchner Olympiastadion und der Olympiaberg davor. Eine künstlich geformte Landschaft, über und über mit Menschen bedeckt. Ein Bild des Sommers, des Vergnügens, der Heiterkeit. Der Münchner Olympiapark während des Konzerts von Taylor Swift im Juli vergangenen Jahres, aus der Vogelperspektive gesehen von Manuel Picker.
240 Fotografien von 110 Künstlerinnen und Künstlern
Kurator Stefan Kirchberger hat zum Jubiläum der Hypo-Kunsthalle 240 Fotografien von 110 Künstlerinnen und Künstlern für die Ausstellung „Civilization“ in den Räumen versammelt. Ihr gemeinsames Thema ist unsere Zivilisation der Gegenwart. Ein riesiges thematisches Feld zwischen der Vereinzelung vor dem Computer während der Pandemie und der Versammlung vieler in der Öffentlichkeit: „Wir haben einem ganzen Raum den Namen gegeben ‚Zusammen allein‘. Wir sind alles Individuen, wir alle acht Milliarden auf dieser Welt – und wollen trotz allem auch noch als Individuen in der Gruppe funktionieren“, sagt Kirchberger.
Dabei erzählt die Ausstellung tatsächlich in Bildern. Sparsame Texte in den Sälen geben den Gedanken der Besucherinnen und Besucher nur ein bisschen Geleit. Die einzelnen Räume heißen „Bienenstock“, „Zusammen allein“, „Kontrollieren“, „Fließen“, „Beeinflussen“, „Brüche“, „Entfliehen“ und „Als Nächstes“. Im Raum „Brüche“ werden die Einbrüche des Menschen in intakte Landschaften gezeigt, im Raum „Entfliehen“ zum Beispiel die Grenzanlagen zwischen den USA und Mexiko. Man sieht, wie eine Mutter mit ihrer Tochter nur durch martialische Gitter hindurch sprechen kann.
Vor München war die Ausstellung in Taipeh zu sehen
Die ursprünglich von dem amerikanischen Kurator Bill Ewing zusammengestellte Ausstellung „Civilization“ tourt seit 2017 um die ganze Welt. Vor München war sie in Taipeh zu sehen. Das bayerische Team hat sie aber entscheidend ergänzt und erweitert: Um Fotos aus der Nähe – man sieht unter anderem massenhaft gestapeltes Holz aus Wasserburg oder eben das Münchner Taylor-Swift-Konzert – und mehr Werke von Fotografinnen.
Das Ergebnis ist atemberaubend. Im letzten Raum „Als Nächstes“ vermisst Stefan Kirchberger die Menschen: „Wir haben ein KI-generiertes Bild in der Ausstellung. Und ich habe gerade vor kurzem gelesen, ein schlaues Zitat, wie ich denke, das uns zu denken geben sollte: ‚KI dürfte die letzte große Erfindung der Menschheit sein.'“ Und dann unsere Zivilisation ersetzen? Übernehmen? Eine Ausstellung, die viele Fragen stellt.