Es gibt Spiele, die beeindrucken mit großem Spektakel – mit lauter Musik, glänzender Grafik, Explosionen im Minutentakt und Belohnungsmeldungen, die wie digitales Konfetti über den Bildschirm regnen. Und dann gibt es Spiele wie Blue Prince, die auf Zehenspitzen in unser Bewusstsein schleichen, nur um sich dort mit der Hartnäckigkeit eines intellektuellen Parasiten einzunisten.
Die Prämisse: Ein junger Mann erhält das architektonische Vermächtnis seines verstorbenen Onkels – allerdings nur unter einer Bedingung, die an Borges‘ Bibliothek von Babel erinnert. Er muss den mysteriösen Raum 46 finden, in einem Gebäude, das offiziell nur 45 Zimmer besitzt. Als wäre das nicht genug, entpuppt sich das Haus als organisches Labyrinth, das sich täglich neu erfindet.
Architektur statt Action
Jeder Spieltag beginnt im Vestibül. Mit jeder geöffneten Tür präsentiert das Spiel ein Triptychon möglicher Räume – eine Entscheidung, die nicht nur den nächsten Schritt bestimmt, sondern die gesamte Architektur des wachsenden Gebäudes. Doch Vorsicht: Manche Pfade enden abrupt, andere bleiben verschlossen ohne den passenden Schlüssel, Edelstein oder – weit wertvoller – das richtige Verständnis. Manche Rätsel wirken auf den ersten Blick banal – bis man begreift, dass sie überhaupt da sind. Etwa, wenn eine Statue nur dann reagiert, wenn vorher das Licht eingeschaltet wurde. Was aussieht wie ein atmosphärisches Detail, entpuppt sich als entscheidender Hinweis.
Puzzle trifft Poesie
Blue Prince verabschiedet sich von den Dopamin-Schleifen des modernen Spieldesigns. Hier gibt es keine Punktwolken, keine Fähigkeitsbäume, keine virtuellen Trophäenschränke. Die einzige Währung im blauen Königreich ist die Erkenntnis selbst und das beste Gefühl, das einem ein Spiel geben kann: Ich habe es verstanden. In Blue Prince fühlt man sich also weniger wie ein Held, sondern mehr wie ein listiger Fuchs.
Das Spiel betreibt dabei eine fast schon provokante Verweigerungshaltung gegenüber jedweder Hilfestellung. Wer in diesem rätselhaften Haus vorankommen will, muss genau hinschauen, Muster erkennen, wo andere nur Verwirrung sehen, und im richtigen Moment den entscheidenden Gedankenblitz haben.
Blueprint für ein neues Spielgefühl
Diese Form des Fortschritts hat ein eigenes Genre hervorgebracht: das MetroidBrainia. Hier wächst nicht das Waffenarsenal, sondern das Wissen. Theoretisch könnte ein allwissender Spieler vom ersten Moment an direkt zum Ziel schreiten. Doch genau darin liegt die subtile Verführung: Das Wissen zu erlangen, das das Spiel bereits besitzt, aber elegant verschweigt. Klassiker des Genres sind Werke wie Return of the Obra Dinn, Outer Wilds oder der Urvater Myst – jenes fotorealistische Puzzlespiel, das in den 90ern auf nahezu jedem Bürorechner installiert war. MetroidBrainias sind also Spiele, deren Antworten oft unverdeckt vor uns liegen, unsichtbar nur durch unsere eigene Unwissenheit.
Stilles Spiel, lauter Hype
Und so denkt man über Blue Prince dauernd nach. Im Büro, in der U-Bahn, beim Zähneputzen, im Supermarkt und nachts, wenn es still ist und dunkel und man eigentlich einschlafen möchte. Blue Prince ist fordernd, manchmal frustrierend, aber immer faszinierend – und ein echter Kritikerliebling, der gerade Traumwertungen abstaubt. Zu Recht.