Die ukrainische Schriftstellerin Victoria Amelina dokumentierte Verbrechen an Frauen im Krieg und fiel ihm selbst zum Opfer. In der ostukrainischen Stadt Krematorsk saß sie mit zwölf anderen Zivilisten im Juni 2023 in einer Pizzeria, als eine russische Rakete einschlug. Sie wurde so schwer verletzt, dass sie wenige Tage später im Krankenhaus von Dnipro starb. Sie wurde 37 Jahre alt und hat eine Reihe von Texten hinterlassen, die ihre Freunde als Buch herausgegeben haben, das jetzt auch auf Deutsch vorliegt.
Über ihre Mitstreiterinnen bei der Menschenrechtsorganisation „Truth Hounds“, die Kriegsverbrechen dokumentiert, verfasste Viktoria Amelina Portraits und kurze Reportagen. Die wurden Teil ihres Buches „Blick auf Frauen – Den Krieg im Blick“. Um die Orte der Kriegsverbrechen aufzusuchen, musste die Schriftstellerin immer wieder in die Nähe der Front reisen. Im Sommer 2023, kurz vor ihrem Tod, schickt sie ihrer Freundin eine Datei mit Texten für ihr Buchprojekt mit dem lakonischen Kommentar: „Es ist ungewiss, von welcher Rakete ich getroffen werde, also kann dieses Dokument auf alle Fälle bei Dir bleiben.“
Exkurse in die Leidensgeschichte der Ukrainer
Dieses Dokument, das jetzt zum Buch geworden ist, enthält Reiseberichte, Exkurse in die Leidensgeschichte der Ukrainer, zu der vor allem der Holodomor, die Hungerkatastrophe Anfang der 30er-Jahre gehört. Ferner Erinnerungen an ukrainische Dissidenten in der UdSSR und den schon von ihnen initiierten Kampf um Gerechtigkeit – die Malerin Alla Horska etwa setzte sich in den 1960er-Jahren für die Dokumentation von Menschenrechtsverbrechen unter Stalin ein und wurde deshalb 1970 in Wassylkiw in der Nähe von Kiew wohl unter Federführung des KGB ermordet.
Die historische Verortung wechselt ab mit unsentimentalen kurzen Eintragungen über den Kriegsalltag und der Dokumentation von Verbrechen an der Zivilbevölkerung in den von Russen okkupierten Gebieten. Tragend für das Fragment gebliebene Buch ist die Geschichte des Kinderbuchautors Wolodymyr Wakulenko. Er lebte mit seinem Vater und seinem kranken Sohn in Kapytoliwka bei Isjum. Das Dorf fiel in den ersten Tagen des Krieges unter russische Okkupation.
Es geht darum, Einzelschicksale zu bewahren
Wolodymyr Wakulenko hielt den Alltag in einem Tagebuch fest, das er in seinem Garten vergraben konnte. Wenige Tage später wurde er im März 2022 verschleppt, gefoltert und getötet. Zusammen mit seinem Vater hat Victoria Amelina nach Befreiung der Region das Tagebuch wieder ausgegraben und das im Buch beschrieben: „Ich hatte keine Angst davor, in diesen Garten zu gehen, auch wenn der Boden bei Isjum voller Landminen war. Aber ich hatte furchtbare Angst, sein Tagebuch nicht zu finden. Wir haben bereits zu viele ukrainische Manuskripte verloren, als dass wir auch nur ein weiteres verlieren dürfen. Aber Wolodymyrs Vater und ich fanden es noch an diesem Tag. So kann ich jetzt Wolodymyr selbst zitieren, seine letzte Notiz vom 21. März.“
Und Wolodymyrs Vater schrieb in jenes Tagebuch: „In den ersten Tagen der Besatzung habe ich mich erst ein bisschen gehen lassen, dann irgendwann – weil ich halb verhungert war – ganz. Jetzt habe ich mich zusammengerissen (…) und heute am Tag der Poesie wurde ich von einer kleinen Gruppe Kraniche begrüßt, ein Keil am Himmel, und durch ihre Kranu-Rufe hindurch konnte man es fast schon hören: Die Ukraine wird sich erholen! Ich glaube an den Sieg!“
Es ist eine fordernde, intensive Lektüre. Victoria Amelia zoomt den Krieg durch das Prisma des Erzählens ganz nah heran. Dabei geht es ihr nicht um Drastik, sondern darum, Zeugnis abzulegen und Einzelschicksale zu bewahren. So wird das Buch auch ein Exkurs über Ethos und Gesittung.