Südkorea, im Mai 2024. John (heute 31) läuft ziellos umher, an einer Landstraße entlang. Seine Augen sind blutunterlaufen, er redet wirres Zeug: Er sei erleuchtet und er sei Buddha. Und er brauche jetzt die „finale Lösung – den Tod“. Johns Name wurde geändert, um seine Privatsphäre zu schützen. Er ist in diesem Zustand überzeugt davon, dass ihm im Meditationszentrum, aus dem er gerade kommt, ohne sein Wissen Drogen gegeben wurden. Seine Frau Hannah (heute 29) geht neben ihm und versucht, ihn zu beruhigen. Sie hat Angst – um ihren Mann und um sich selbst. Einige Tage später erhält John in einem Krankenhaus in Seoul die Diagnose „Psychose“.
Strenge Regeln im Retreat: Kein Buch, kein Sport, kein Sex
Das Schweige-Retreat stand schon länger auf der Bucket List des Ehepaars aus Bayern. Das Konzept des sogenannten Vipassana-Kurses: zehn Tage lang schweigen, zehn Stunden täglich meditieren. Die Teilnehmenden kommunizieren nicht miteinander, auch nicht mit Gesten, und sie sollen weder lesen noch Sport machen. Außerdem sollen sie nicht sexuell aktiv sein – so steht es in den Verhaltensregeln. Eine Freundin hatte Hannah von dem Kurs vorgeschwärmt: „Eine coole Erfahrung, mal abschalten.“ Hannah und John hatten zuvor keine Erfahrung mit Meditationen. Die ist laut Webseite des Kursanbieters auch nicht nötig.
Dhamma Organisation: „Universelles Heilmittel gegen universelle Krankheiten“
Ungefähr 200.000 Menschen weltweit nehmen jährlich an einem Vipassana-Kurs nach Goenka teil, sagt Dhamma, das Netzwerk dahinter. Es listet rund 400 Zentren und Kursorte auf, etwa in Indien, Australien, Kanada, den USA. Auch in Deutschland gibt es fünf Standorte, unter anderem im bayerischen Hausham. Auf der Dhamma-Webseite wird die Meditationstechnik als „universelles Heilmittel gegen universelle Krankheiten“ bezeichnet.
Abgründe erkunden und weiterziehen lassen
Sie geht zurück auf den Meditationslehrer S.N. Goenka. Er ist 2013 gestorben. In den Kursen ist seine Stimme bis heute aus dem Lautsprecher zu hören. Vipassana-„Assistenzlehrer“ erklären im BR-Interview: „Goenkas Anweisungen sind auf Band, damit seine Lehre nicht verfälscht wird.“ Die Meditationstechnik sei eine „Reinigung des Geistes“ und es könne bei den Meditationen einiges hochkommen: „Alte Erlebnisse, Angst, alte Traumata.“ Es gehe in den Meditationen darum, diese „Abgründe“ anzunehmen und weiterziehen zu lassen.
John: „Warum habt ihr mir Drogen gegeben?“
John erzählt im BR-Podcast „Seelenfänger: Dark Dhamma„, dass er nach acht Tagen Meditieren das Gefühl hatte, sich im Nirvana zu befinden. Er habe dem Personal im Meditationszentrum von seinen Wahnvorstellungen berichtet und gefragt: „Warum habt ihr mir Drogen gegeben?“ Darauf habe ihm ein Mitarbeiter erklärt, dass sein veränderter Geisteszustand auf die Meditation zurückzuführen sei. John erinnert sich, der Mitarbeiter habe ihn zum Weitermeditieren animiert.
Seine Frau hat in der Zwischenzeit versucht, Hilfe für ihren Mann zu bekommen. Doch das Personal reagiert zunächst nicht. Später eröffnen ihr die Mitarbeitenden, ihr Mann habe auf dem Fahrrad das Meditationszentrum verlassen. Hannah erinnert sich, dass sie daraufhin geschrien hat: „Ihr habt gerade eine Person in diesem Zustand gehen lassen? Es kann jetzt alles passieren!“
Kein ursächlicher Zusammenhang mit Meditation
Das südkoreanische Vipassana-Zentrum äußert sich auf BR-Anfrage nicht zum Fall von Hannah und John. Sie schreiben allgemein: „Tiefe Meditation ist nicht für alle zu jeder Zeit geeignet. Wir empfehlen Vipassana nicht für Personen mit ernsthaften psychischen Problemen.“ Es gebe keinen ursächlichen Zusammenhang zwischen psychischen Problemen und Vipassana. Ihren Erfahrungen nach hätten Vipassana-Meditierende sogar weitaus weniger psychische Probleme als andere Menschen.
Eine Operation am Geist
Goenka selbst vergleicht die Meditationstechnik in seinen Vorträgen mit einer Operation am Geist. Man könne nicht einfach mittendrin abbrechen. BR-Recherchen zeigen, dass sich Teilnehmende immer wieder unter Druck fühlen, den Kurs zu Ende zu machen. So auch John. Auch der Meditationsforscher Ulrich Ott kennt Fälle, bei denen Teilnehmende dazu angehalten wurden, weiter zu meditieren, obwohl es ihnen nicht gut ging. Ein Vertreter der Vipassana Vereinigung e. V. schreibt dazu auf BR-Anfrage: „Wir halten keine Personen im Zentrum fest und überreden auch niemanden zu bleiben, wenn jemand gehen will.“
Gefährlich könne es dann werden, sagt Ott, wenn sich bei der Meditation Ängste wie in einer „Stress-Spirale“ hochschrauben und einen „überfluten“: „Dann kann es zu etwas kommen, was sich ähnlich anfühlen kann, als hätte man Drogen genommen – ein Horrortrip.“
Extremes Setting und Kommunikationssperre
Ott bietet Beratung für Menschen an, die spirituelle oder meditationsinduzierte Krisen haben. Er sagt, dass die Vipassana-Kurse nach Goenka mit ihrem extremen Setting und der Abschottung von der Außenwelt nicht für Anfänger geeignet seien. „Die Menschen steigern sich zum Teil in psychische Ausnahmezustände.“ Sie bräuchten dann ein Gegenüber, so Ott, etwa einen Psychotherapeuten oder einen Lehrenden, der Rückmeldung gibt.
John hatte nach dem Kurs zwei Klinikaufenthalte und nimmt Psychopharmaka. Inzwischen weiß er, dass die Angst vor heimlich verabreichten Drogen Teil seiner Psychose war. Die Kombination aus wenig Schlaf, intensiven Meditationen und Isolation hält er rückblickend für gefährlich. Im Podcast „Seelenfänger“ sagt er: „Man sollte sich die Teilnahme gut überlegen. Menschen sind wie Eierschalen: leicht aufzubrechen, aber schwer zu reparieren.“
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