Eine einsame Frau sitzt im Gärtchen und erzählt einer Schnecke von ihrem Leben. Auf dem Schneckengehäuse steht der Name Sylvia geschrieben. Und bis eben lebte Sylvia noch in einem Einmachglas. Nun kriecht sie extrem langsam über den kahlen Boden davon. „Du bist frei, Sylvia. Keine Sorge, ich komm schon klar. Ich bin nicht schon immer so allein gewesen“, sagt die Frau.
Düstere 70er-Jahre-Kindheit
Was für ein trauriges Bild. Und die Trauer bleibt ein wesentliches Motiv in Adam Elliots Stop-Motion-Film „Memoiren einer Schnecke“. Allerdings sind Weinen und Lachen stets unzertrennlich bei Elliot, dem australischen Magier der Knet-Animation für Erwachsene. Das Leben in seiner Gesamtheit ist ja auch nicht besonders lustig. Aber mittendrin bleibt doch viel Raum für Freude und Humor.
Die Geschichte spielt in den 70er-Jahren und könnte kaum düsterer sein. Der Tod schlägt im Leben von Grace zu, wo er kann. Die Mutter stirbt gleich bei der Geburt. Der Vater wird durch einen Unfall querschnittsgelähmt und stirbt dann auch. Die Zwillinge, die sich über alles lieben, werden getrennt und in sehr seltsame Pflegefamilien verbannt, am jeweils anderen Ende Australiens. Und so geht das weiter. Um sich vor Schmerz zu schützen, vergräbt Grace sich in sich selbst, wie eine Schnecke. Eine Wollmütze mit Schneckenfühlern – über dunklem, strähnigem Haar – ist ihr Markenzeichen. Doch ihre Lebensgeschichte, die sie vor Sylvia ausbreitet, gibt ihr auch Kraft und einen unerwarteten Sinn.
Die gesammelten Leidenschaften in Grace‘ Familie sind mit Bedacht gewählt. Beim Vater: Trickfilme, Rubellose und Stricken sowie eine Schwäche für Alkohol. Beim düster charismatischen Bruder Gilbert: Zauberei, Tiere retten und Pyromanie.
Das Beseelen toter Objekte
Und bei Grace, abgesehen von den Schnecken, eine Leidenschaft für das Sammeln wertloser Gegenstände, was sie zum Messi werden lässt. Alle drei lieben Bücher, und die im Laufe des Filmes in die Kamera gehaltenen Buchcover ergeben eine eigene Geschichte. Und dann ist da noch Pinky, eine alte Dame, die Graces beste Freundin wird.
Regisseur Elliot selbst ist ein Sammler der altmodischen Art. In seinen kurzen und langen Filmen sammelt er skurrile Charaktere, solche, die von der Gesellschaft vergessen wurden – und schenkt ihnen ein reiches Innenleben. Animieren bedeutet das Beseelen toter Objekte – in diesem Fall aus Knete. Alles ist handgemacht und zum Anfassen. 100 Prozent analog. Die Haptik des Filmes korreliert perfekt mit dem Inhalt. Nichts bleibt dem Zufall überlassen. Von den unzähligen Details, die jedes Bild ausfüllen, bis zu den 50 Schattierungen von Braun – die bestimmende Farbe. Sie passt zu den 70er-Jahren, zum australischen Outback und zu den Gefühlen der Figuren.
Kein Grund, depressiv zu werden – auch wenn die Schnecke, wie wir erfahren, nach Sylvia Plath benannt ist. Das philosophische Motto aber, das „Memoiren einer Schnecke“ auf wunderbar verspielte Weise aufgreift, kommt von Søren Kierkegaard: Das Leben kann nur rückwärts verstanden werden, aber es muss vorwärts gelebt werden. Am Ende doch ein Motto, das Mut macht.