Seltsam an Annie Earnauxs Buchtitel ist zunächst, dass er dieses andere Ich verwendet. Eigentlich ist Annie Ernaux ganz nah am Ich ihrer Texte, zwangsläufig, als Ethnologin ihrer selbst, wie sie sich beschreibt. Und sie erzählt auch dieses Buch als Ich-Erzählerin. „Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus“ aber ist ein Satz der demenzkranken Mutter.
Ein Tagebuch des Verfalls
„Heute habe ich mir zum ersten Mal ihr Leben außerhalb meiner Besuche klar vorgestellt, die Mahlzeiten im Speisesaal, das Warten. Tonnenweise Schuldgefühle für die Zukunft. Doch wenn sie weiter bei mir gewohnt hätte, wäre mein Leben vorbei gewesen. Sie oder ich“, schreibt Ernaux. Tonnenweise Schuldgefühle – der Sprung vom Mutter-Ich zum eigenen zeigt die Nähe an, die Verstrickung, die Hilflosigkeit, die in diesen letzten Jahren entsteht, als die Mutter in stationärer Langzeitpflege in der Demenz versinkt, unrettbar. „Zwischen uns gab es keine Distanz“, heißt es an einer Stelle. „Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus“ ist das Tagebuch des Verfalls, lauter kurze Notizen, unmittelbar nach jedem Besuch festgehalten. Aufschreiben als existenzielles Bedürfnis. Meistens sind es Beobachtungen, so nüchtern wie möglich.
„Ihre Hand findet den Mund nicht“
„Wieder festgeschnallt. Schafft es nicht, den Kuchen zu essen, ein Stück Aprikosentorte, ihre Hand findet den Mund nicht, ihre Zunge streckt sich dem unerreichbaren Leckerbissen entgegen. Sie begann, die Kuchenschachtel zu zerreißen, wollte sie essen.“ Alltag in einem französischen Pflegeheim in den 80ern: Uringeruch überall, verklebte Fußböden, Nachthemden statt Alltagskleidung. Verbunden mit dem fortschreitenden Verlust von Fähigkeiten der Mutter, greifen, laufen, verstehen, erkennen. Ernaux beschreibt ihren Ekel vor der zum Kleinkind gewordenen Alten, aber auch deren grenzenlose Bedürftigkeit, die Zärtlichkeit, die sich bei beiden, manchmal überraschend, plötzlich Bahn bricht.
Diese Notizen wird sie Jahre lang nicht hervorholen, statt dessen sich im ersten Projekt nach dem Tod der Mutter, 1986, dem Gesamtbild dieser Biografie widmen. Ihr Buch „Eine Frau“ erzählt von einer dicken, lauten Person aus der Arbeiterschicht, für die ein Laden mit Kneipe sozialen Aufstieg bedeutet und deren Tochter eine berühmte Intellektuelle wird, damit aber auch ein Stück eine Fremde. Ein Buch wie ein Denkmal. Wie der Text „Der Platz“, der dem Vater gilt. Jahre später entschließt Ernaux sich, auch die Notizen aus der Demenzzeit zu veröffentlichen, um nicht nur „ein einziges Bild stehen zu lassen“. Sie sind in Frankreich 1997 erschienen und jetzt in der wie immer hervorragenden Übersetzung von Sonja Finck auf Deutsch.
Keine Anklage gegen die Pfleger
Auf keinen Fall dürfe man diesen Bericht als Anklage gegen die Pflegestation lesen, stellt Ernaux dem Buch voran – wie auffällig der Gegensatz zu den nahen Kollegen im Genre „Autofiktionales Mutterbuch“. Der Soziologe Didier Eribon schreibt – Jahrzehnte später – nichts von Schuldgefühlen in „Eine Arbeiterin“, sondern holt aus zur kulturgeschichtlichen Rahmung des Alters und zum politischen Angriff auf die Pflegeverwaltung in Frankreich.
Edouard Louis, in „Monique bricht aus“, kann seiner noch sehr weit von Pflege entfernten Mutter die Klassenwelt erklären und Monique sogar erfolgreich retten. Annie Ernaux aber wählte ein Thema, bei dem sich keine Erfolge mehr erwarten lassen, kein politischer Schwung geholt werden kann. Sehr intim, sehr still: „Als ich mich verabschiede, sieht sie mich verloren an, panisch. ,Du gehst?'“
Demenz als Literaturthema
Eine Tochter zu sein, die die bedürftige Mutter enttäuscht, dem Verfall zuzusehen, der nur schlimmer werden wird, Hilflosigkeit, Verzweiflung und diese kindlichen Wünsche, dass die richtige Mama von früher wieder da sein soll: Die Veröffentlichung markiert Annie Ernauxs Entschluss, sich all dem zumindest zu stellen. Damals, vor fast 30 Jahren, ohne dass Demenz schon ein Literaturthema gewesen wäre.
Das Mutterbild soll vollständiger werden. In radikaler Ehrlichkeit, die von keiner poetologischen oder soziologischen Analyse gemildert wird. Stattdessen: hingeworfene Augenblicke, ständige Verbindung zum „zu spät“, „zu wenig“. Schmerzhaft zu lesen. Schmerzhaft zu leben. So findet sich ganz beiläufig die Mahnung an sich selbst: „Beim Schreiben darauf achten, mich nicht meinen Gefühlen hinzugeben.“