Kleidung betrachten wir gemeinhin als oberflächlich oder nebensächlich. Ihr Inhalt, nämlich der menschliche Körper, seine Persönlichkeit oder sein Erleben und seine Lebensgeschichte sind natürlich auch viel wichtiger. Weil in den Vernichtungs- und anderen Konzentrationslagern der Nazis sechs Millionen Juden systematisch ermordet wurden, blieb ihre Kleidung in den Augen der Historikerinnen und Historiker lange im Hintergrund.
Die polnische Historikerin Karolina Sulej hat herausgefunden, dass Kleidung und Mode in Lagern tatsächlich eine große Bedeutung hatten und teilweise sogar überlebenswichtig waren, und ein Buch darüber geschrieben.
Häftlinge im Ballkleid
Durch den Fokus der Kleidung erzählt Karolina Sulej plastisch wie selten vom Alltag der Häftlinge: Wie sie versuchen, mit dürftigsten Kleidungsstücken Hitze, Regen und Kälte zu trotzen oder wie sie sich Kleidung durch Schmuggel und Schwarzmarkt organisieren und dafür auf eine lebenswichtige Scheibe Brot verzichten. Denn längst nicht alle Häftlinge trugen den gestreiften Häftlingsanzug, weil es nicht genügend davon gab. Also wanderten Kleider aus dem geraubten Gepäck der Ankömmlinge auf den Schwarzmarkt. Das konnten groteskerweise sogar Ballkleider, vornehme Hüte oder Anzüge sein.
Die Auschwitz-Überlebende Maria Jezierska erinnert sich: „Die schönen, jungen Jüdinnen verwandeln sich in Karikaturen von Menschen – kahlgeschorene Köpfe, von der Sonne verbrannt, mit Wunden und Blasen, geröteter Haut, die unglaublichsten Kleider, Seide neben warmen Stoffen, zerrissen, die Pelzkragen abgeschnitten, mit riesigen Dekolletés oder ohne Knöpfe und deshalb vorn oder auf dem Rücken offen, zu kleine oder zu große Kleider, die Füße nackt oder in Schuhen.“
Aussehen wie eine Banditin oder Bettlerin
Die Millionen Häftlinge der nationalsozialistischen Konzentrationslager Auschwitz, Majdanek, Sobibor oder Bergen-Belsen mussten bei der Ankunft neben all ihrer Habe auch alle Kleider abgeben, sich nackt ausziehen und wurden geschoren. Von ihrem bisherigen Leben sollte nichts übrig bleiben. Dann bekamen sie den gestreiften Anzug, der auch die Flucht unmöglich machen sollte, später oft auch andere Kleidungsstücke oder Fetzen.
Maria Jezierska beschreibt eine typische Gefangene aus der Erinnerung: „Dann sah sie wie eine Banditin oder Bettlerin aus: ein Tuch um den Kopf, ein schlechtsitzendes Kleid mit einem Flicken aus gestreiftem Stoff, schmutzig und oft löchrig oder mit aufgerissenen Nähten unter den Achseln (…), unterschiedliche Strümpfe, zwei verschiedene Schuhe, nicht zusammengehörige Handschuhe.“
Kleiderhierarchie erleichtert das Töten
Kleider machen Leute – das galt auch im KZ: Auf der einen Seite die erbärmlichen, schmutzigen, verlausten und verflohten Kleider der Häftlinge und auf der anderen die Autorität und Omnipotenz ausstrahlenden Uniformen der SS-Männer. Die Häftlinge mussten sehr auf ihr Äußeres achten. Denn ihre Kleidung – und wie die anderen sie bewerteten – konnte darüber entscheiden, ob sie in die Gaskammer mussten oder (noch) für arbeitsfähig erachtet wurden.
„Wenn Du ein Wachmann bist und eine ehrfurchtgebietende Uniform trägst und ein Individuum siehst, das gar nicht mehr wie ein Mensch aussieht, dann ist es psychologisch leichter, den Häftling zu misshandeln oder gar zu töten“, sagt Autorin Karolina Sulej. „Und das ohne schlechtes Gewissen.“ So wirkte diese Kleiderhierarchie schon vor jeder Gewalthandlung.
Maria Jezierska schreibt: „Es ist charakteristisch, welch große Bedeutung eleganter Kleidung im Lager zukam, die eine gewisse Position erkennen ließ. Sie führte sofort zu einer anderen Behandlung (…). Man konnte sich in Birkenau vor der Arbeit drücken, wenn man saubere, adrette Kleidung trug, eine selbstsichere Miene machte und Deutsch konnte.“
Kleidung und Mode sind allgegenwärtig
Die Autorin hat durch ihre Recherchen, ihre Lektüre von Lebenszeugnissen von Überlebenden und durch Interviews viel über die Bedeutung von Kleidung und Mode verstanden. Ihr ist klar geworden, was so offensichtlich ist, aber doch meist unterschätzt: Kleidung ist allgegenwärtig. „Sie kann uns ein gutes Selbstwertgefühl geben, sie kann Leben retten und die Sprache von Liebe und Fürsorge sprechen, aber auch die Sprache von Unterdrückung und Tod“, sagt sie.
Und: „Wer dem anderen seine Kleidung wegnimmt, nimmt ihm seine Identität, seine Biografie und seine Handlungsmöglichkeiten. Deshalb hat Kleidung etwas Magisches, etwas Transformatives, weil sie nicht nur über unseren Verstand funktioniert, sondern über unser Unbewusstes und durch unseren Körper.“
Karolina Sulej:“Persönliche Dinge. Was Kleidung aus NS-Lagern uns heute erzählen kann“ (Chr. Links Verlag)