Legenden besagen, dass Menschen, die im Ruhrgebiet aufwachsen, die Fähigkeit haben, Schönheit zu finden, wo andere nicht mal suchen würden. In besonderem Maße gilt das auch für die beiden Brüder Kai und Mirko aus dem neuen Kinofilm „Frisch“. Tagsüber ruft die Arbeit in der Fleischverarbeitungsfabrik. Die Schweine müssen geschlachtet, die Kadaver verzehrfertig verarbeitet werden. Nachts ruft das Bier in der Kneipe „Zum deutschen Eck“, wo man seinen Nebenmann im Zigarettenqualm fast nicht mehr erkennen kann.
Kai will eigentlich nur weg
Kai will da eigentlich nur raus. Fliehen mit seiner Frau Aise und ihrem gemeinsamen Kind. Nach Berlin, Paris oder vielleicht sogar in die USA. Aber er hängt in Duisburg fest. Mit der Bezahlung kann der Fleischverarbeiter die Familie kaum versorgen. Nachts fährt er für seinen Bruder Mirko deshalb Drogen von A nach B. Und den lässt man besser nicht hängen: Mirko wandert für seine Gewalteskapaden immer wieder in den Knast. Und Kai hat plötzlich ein Problem. Eigentlich sollte er für Mirko 10.000 Euro aufbewahren, als der im Gefängnis war. Eigentlich.
„Frisch“ ist eine adrenalingeladene Bruderballade. Die Romanvorlage, „Fresh“, spielt eigentlich in Irland. Regisseur Damian John Harper hat sie nach Duisburg verlegt und einen rauen, dunklen Film gedreht. Die Kamera hält voll drauf, wenn den Schweinen in der Fabrik die Kehle durchgeschnitten wird. Die Szenen werden so hart aneinander geschnitten, dass „Frisch“ manchmal mehr Schlag in die Magengrube als Film ist. Aber Gewalt ist auch die zentrale Komponente im Leben der Brüder Kai, gespielt von Louis Hofmann, den Netflixfans noch aus der Serie „DARK“ kennen und Mirko, gespielt von Franz Pätzold. Das hat ihnen ihr Onkel Andy so beigebracht: „Da gibt es immer nur eine Lösung: Du suchst dir den Größten raus – und den machste platt!“
Biblische Eskalationsspirale
In rund 90 Minuten entwickelt sich hier eine fast schon biblische Eskalationsspirale. Erdrosselte Kain einst seinen Bruder Abel aufgrund dessen Schönheit, stehen die Vorzeichen hier etwas anders. Auch Mirko tyrannisiert seinen kleinen Bruder. Aber nicht, weil Kai schöner, sondern nur weil Mirko stärker ist. Körperliche Kraft ist das Wichtigste für die Typen im trostlosen Ruhrgebiet: „So macht man das Jungens, hat er gesagt. Ein Feigling stirbt tausend Tode. Aber ein Held stirbt nur das eine Mal.“
Ein echter Mann, lernen sie, hat sich durchzusetzen. Aber gegen wen oder was eigentlich? Ästhetisch erinnert vieles an den ersten Rocky-Film – einsame Männer in einer dunklen, leeren Stadt. Auch Mirko ist ein Arbeiterjunge, der gut zuschlagen kann. Aber anders als in Philadelphia fehlt in Duisburg der Boxring. Und so reißt Mirko die anderen mit sich in den Abgrund. Das „Frisch“-Finale ist düster, so düster, wie man es im deutschen Kino lange nicht gesehen hat. Weil sie alle irgendwie da raus wollen, weil sie Gewinner sein möchten – aber in einem System gefangen sind, in dem es nur Verlierer gibt.