Für die Moderne gibt es eigentlich nur eine Richtung: nach vorn. Fortschritt lautete ihr großes Versprechen, für alle. Genau dieses Versprechen aber ist brüchig geworden, sagt Oliver Nachtwey: „Menschen in den 50er, 60er und 70er Jahren konnten berechtigterweise erwarten, dass ihre Kinder es einmal besser haben werden. Und diese Vorstellung gilt so nicht mehr.“
Empirische Studien zum „Bedürfnis nach Chaos“
Wie in ihrem Vorgängerband „Gekränkte Freiheit“ verschränken Oliver Nachtwey und Carolin Amlinger auch im neuen, gerade erst mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichneten Buch „Zerstörungslust“ Theorie und empirische Befragungen. Knapp 2.600 Menschen in Deutschland haben sie in einer Umfrage, 41 in ausführlichen Gesprächen Auskunft geben lassen.
Dabei stützen sie sich auf eine noch recht junge politikwissenschaftliche Richtung aus den USA, die „Need for Chaos“-Forschung, die das „Bedürfnis nach Chaos“ erfassen will, so Carolin Amlinger: „In dieser Befragung waren Aussagen enthalten wie: ‚Ich möchte die Gesellschaft in Schutt und Asche legen‘. Und man konnte sich zu diesen Aussagen zustimmend oder ablehnend verhalten.“ Ein zentrales Ergebnis dieser Umfrage sei, dass 12,5 Prozent der Befragten mittel- oder hochdestruktiv sind.
„Demokratischer Faschismus“ untergräbt Demokratie
„Destruktiv“, das heißt dann zum Beispiel, von radikalen Schnitten mit der „Motorsäge“ zu träumen, drakonische Strafen als Mittel zur Lösung sozialer Probleme zu sehen – oder Gewalt zu befürworten. Als einen Treiber destruktiver Energie machen Amlinger und Nachtwey ein „Nullsummen-Denken“ aus: Die Verluste der eigenen Gruppe werden als direkte Gewinne einer anderen wahrgenommen und umgekehrt: Migranten nehmen uns die Arbeit weg, zu viele Geschlechter untergraben die Geltung der zwei gewohnten.
Solche Befunde des Buches sind düster – überraschend sind sie nicht, man kennt sie aus dem Twitterfeed oder dem echten Leben. Für die Einordnung der Phänomene formulieren Amlinger und Nachtwey einen starken Leitbegriff: Destruktivität ist Teil eines neuen, eines „demokratischen Faschismus“: „Der Begriff ‚demokratischer Faschismus‘ erscheint auf den ersten Blick widersprüchlich, da der historische Faschismus die Demokratie offen bekämpfte und eine diktatorische Form der Gewaltherrschaft war. Uns ist jedoch ein Faschismus begegnet, der sich gerade als Erneuerung der Demokratie versteht – um sie aber von innen heraus zu untergraben.“
Mehrere Kriterien für Faschismus erfüllt
Genau das ist gerade in Amerika zu beobachten – neben Deutschland liegt der zweite Fokus des Buches deshalb auf den USA. Ob die Methode Trump schon „Faschismus“ ist, darüber wurde in den zurückliegenden Monaten viel debattiert. Amlinger und Nachtwey wollen ausdrücklich keine „Checkliste“ mit Faschismus-Merkmalen schreiben – zu formalistisch sei das, zu statisch. Warum das so sein sollte, erklärt sich allerdings nicht, und in der Sache legt auch ihr Buch natürlich einen Kriterienkatalog zugrunde: Faschismus ist anti-egalitär, unterscheidet Gruppen substanziell, schließt die einen ein und die anderen aus. Er macht aus politischen Gegnern Feinde, „Feinde im Innern“, sagt Trump – eine Markierung, die ins Herz der Demokratie trifft.
„Nicht nur das Rohe, sondern auch die Lust an der Gewalt, an der Erniedrigung anderer, die Befriedigung, die sie darin empfinden, wenn man Zorn und Hass schürt, der saloppe Umgang überhaupt mit Rechtsstaatlichkeit und Demokratie – das sind alles Elemente, die diesen faschistischen Geist aufzeigen,“ sagt Oliver Nachtwey. Und am Ende, auch das macht das Buch deutlich, „ist Faschismus vor allen Dingen ein Gefühl.“
Forderung nach sozialer Gerechtigkeit weicht Ressentiments
Verluste und Ungleichheiten sind real, dass man ihnen aber nicht mit der Forderung nach mehr Gerechtigkeit begegnet, zeigt: Es geht auch um etwas anderes. Um Ressentiments, Bestätigung, Rebellion gegen die Ansprüche von Minderheiten. Das in bestimmten Ausprägungen „faschistisch“ zu nennen, ist keine Eskalationsrhetorik, sondern lässt klarer sehen. In den USA stellt die Regierung Repression zur Schau, etwa wenn Agenten der Einwanderungsbehörde Menschen auf offener Straße in ihre Autos zerren: „Diese gewaltförmige Durchdringung der Gesellschaft ist auch ein Moment der Zerstörungslust von oben, wenn man so möchte.“
Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey schreiben auch mit ihrem neuen Buch Wissenschaft ganz nah an der gefährdeten Gegenwart. Wer besser verstehen will, was unsere Demokratie bedroht, sollte „Zerstörungslust“ unbedingt lesen.