Der Wirtschaftswissenschaftler Martin Werding sorgt mit einer lauten Warnung für Aufmerksamkeit: Bald schon könnte die Hälfte des Bruttolohns für Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung abgezogen werden, erwartet der Ökonom, der zu den „Wirtschaftsweisen“ gehört, die die Bundesregierung beraten.
Wie haben sich die Sozialbeiträge zuletzt entwickelt?
Die Summe der Sozialversicherungsbeiträge pendelt seit drei Jahrzehnten um den Wert von 40 Prozent. Derzeit zu gleichen Teilen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern getragen. 1995 summierten sich die Beiträge nach Berechnungen der Uni Duisburg/Essen [externer Link] auf 39,2 Prozent, von 2003 bis 2006 erreichten sie einen Höchststand von knapp 42 Prozent. Dann sanken sie 2013/14 auf 39,5 Prozent. Inzwischen ist wieder der Wert von 42 Prozent erreicht.
Was sind die Gründe für die Schwankungen der Sozialbeiträge?
Beim Auf und Ab der Sozialbeiträge gibt es verschiedene Faktoren. Die Arbeitslosenversicherung musste in früheren Jahrzehnten für deutlich mehr Erwerbslose aufkommen als heute. 2005 lag die Arbeitslosenquote bei 13 Prozent, 2024 nur noch bei 6,5 Prozent, also halb so hoch. Mit dem Absinken der Erwerbslosigkeit konnte der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung deutlich sinken. Mit 2,6 Prozent ist er derzeit weniger als halb so hoch wie vor 20 Jahren, als er noch bei 6,5 Prozent lag.
Auch der Beitrag der Rentenversicherung liegt mit 18,6 Prozent heute unter dem Wert von vor 20 Jahren, als er noch bei 19,9 Prozent lag. Gründe für den Rückgang sind unter anderem der bessere Arbeitsmarkt und Einschnitte beim Rentenniveau.
Welche Sozialabgaben sind besonders stark gestiegen?
Der Anstieg der Gesamt-Sozialversicherungsbeiträge geht vor allem auf das Konto von Kranken- und Pflegeversicherung. Vor 20 Jahren zahlten Kassenversicherte im Schnitt 14,2 Prozent ihres Bruttolohns für die Krankenversicherung. Mittlerweile sind es 17,1 Prozent. Einzelne Kassen sind noch teurer.
Die Pflegeversicherung nahm bei ihrem Start 1995 nur 1,0 Prozent vom Bruttolohn. Mittlerweile hat sich der Beitragssatz mehr als verdreifacht: Eltern zahlen 3,6 Prozent, Kinderlose noch einmal 0,6 Prozent mehr.
Warum sind höhere Sozialabgaben ein Problem für die Wirtschaft?
Die Sozialversicherungsbeiträge schlagen auf die Arbeitskosten durch. Vor allem exportorientierte Unternehmen haben Probleme, wenn die Lohnkosten steigen. Vor rund 20 Jahren ist es deshalb vor allem auf Drängen der Arbeitgeberverbände zu einem breiten politischen Konsens geworden, dass die Sozialversicherungsbeiträge in der Summe nicht mehr als 40 Prozent betragen sollten.
Ist ein Anstieg der Sozialabgaben auf (über) 50 Prozent realistisch?
Zur Frage, wie sich die Sozialversicherungsbeiträge entwickeln, gibt es immer wieder unterschiedliche Berechnungen. Das Forschungsinstitut IGES sagte vergangenes Jahr einen Gesamt-Sozialversicherungsbeitrag von 48,6 Prozent für 2035 [externer Link] vorher. Den Auftrag zu dieser Studie hatte die Krankenkasse DAK Gesundheit gegeben.
Das Forschungsinstitut Prognos kam 2017 zu Ergebnis, bis 2040 könnte der Gesamt-Beitragssatz in einem „Basis-Szenario“ auf 48,8 Prozent steigen. Unter ungünstigen Bedingungen seien sogar 55,5 Prozent möglich [externer Link]. Die Prognos-Studie wurde von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft finanziert.
Ist ein starker Anstieg der Sozialbeiträge unvermeidlich?
In früheren Jahrzehnten ist es gelungen, den Anstieg der Sozialbeiträge zu bremsen und sie zeitweise sogar sinken zu lassen. Verschiedene Fachleute argumentieren, es gebe viele denkbare Maßnahmen, um die Sozialabgaben im Zaum zu halten.
Einige Vorschläge lauten: Die Sozialkassen könnten gestützt werden, indem mehr Menschen in Arbeit kommen. Bessere Prävention könnte die Ausgaben der Krankenkassen dämpfen. Ein höherer Steuerzuschuss könnte die Beitragszahler entlasten und Wohlhabende stärker an den Sozialausgaben beteiligen. Eine höhere Beitragsbemessungsgrenze würde ebenfalls Besserverdiener stärker in die Pflicht nehmen und gleichzeitig den Druck auf den Gesamtbeitrag senken.
In der Krankenversicherung gibt es vor allem von Krankenkassen die Forderung, die Entwicklung der Ausgaben an die Einnahmen zu koppeln, etwa über Budgets. In der Pflegeversicherung haben Arbeitgeberverbände gefordert, die Leistungen zu kürzen, vor allem für Menschen mit wenig Pflegebedarf.