Die Schulaufgaben in der vierten Klasse der bayerischen Grundschule werden auch als „Grundschulabitur“ bezeichnet. Der Notenschnitt entscheidet maßgeblich darüber, ob die Kinder eine Empfehlung für das Gymnasium, die Realschule oder die Mittelschule bekommen. Eine aktuelle Erhebung des Leibniz-Instituts für Bildungsverläufe in Bamberg zeigt jedoch, dass viele Eltern diese Empfehlungen nicht befolgen, insbesondere wenn es um den Übertritt aufs Gymnasium geht.
Eltern folgen Übertrittsempfehlungen häufig nicht
Im vergangenen Jahr besuchten rund 114.000 Kinder in Bayern die vierte Klasse. 55 Prozent dieser Schülerinnen und Schüler erhielten ein Übertrittszeugnis mit einer Durchschnittsnote von 2,33 oder besser, was den Zugang zum Gymnasium ermöglicht. Dennoch entschieden sich viele Eltern dagegen und schickten ihre Kinder stattdessen auf die Realschule. Der Sozialforscher Marcel Helbig vom Leibniz-Institut für Bildungsverläufe in Bamberg (externer Link) hat die Antworten des bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus auf eine schriftliche Anfrage von Bündnis 90/Die Grünen (externer Link) analysiert. Das Ergebnis, dass etwa ein Viertel der Schüler mit Gymnasialempfehlung in Bayern nicht aufs Gymnasium wechselt, sei „schon ein stückweit überraschend“ gewesen, sagt er im BR-Interview.
Regionale Unterschiede beim Schulübertritt
Die Untersuchung zeigt, dass es beim Übertritt von der Grundschule aufs Gymnasium erhebliche regionale Unterschiede gibt. Im Landkreis Neuburg-Schrobenhausen geht weniger als die Hälfte der Kinder mit Gymnasialempfehlung tatsächlich aufs Gymnasium. In 70 der 96 bayerischen Kreise befinden sich mehr Schülerinnen und Schüler mit Gymnasialeignung als mit Realschuleignung auf den Realschulen. In Landkreisen wie Rottal-Inn oder Dingolfing-Landau wechselt insgesamt weniger als ein Viertel der Schülerinnen und Schüler von der Grundschule auf ein Gymnasium. Im Gegensatz dazu sind die Übertrittsquoten in Ballungszentren wie München und in größeren Städten wie Erlangen, Bamberg oder Würzburg mehr als doppelt so hoch. Diese Unterschiede sind laut Bildungsforscher Marcel Helbig auch darauf zurückzuführen, dass in ländlichen Gebieten schlicht die Schulinfrastruktur fehlt, es gibt zu wenig Gymnasien.
Der Wohnort beeinflusst die Schulwahl
Ein wichtiger Faktor bei der Entscheidung für eine weiterführende Schule ist der Wohnort. In ländlichen Regionen sind die Gymnasien oft weit entfernt. Lange Anfahrtswege werden für Kinder und Eltern im Alltag zum Problem. Auch soziale Aspekte spielen eine Rolle: Eltern bevorzugen häufig die Realschule in der Nähe, damit sich die Kinder nachmittags mit Schulfreunden treffen können. Angela Wanke-Schopf vom Bayerischen Elternverband betont außerdem, dass finanzielle Mittel und der Bildungshintergrund die Entscheidung für den Schulübertritt beeinflussten. Eltern fragten sich, ob sie ihr Kind gut genug unterstützen können, wenn sie selbst nicht aufs Gymnasium gegangen sind. Um solche Nachteile auszugleichen, müssten zum Beispiel das Lehrpersonal aufgestockt werden und ausreichend Schulpsychologinnen und Schulberater zur Verfügung stehen.
Forderungen nach längerer gemeinsamer Lernzeit
Elternvertreterin Angela Wanke-Schopf und Bildungsexperte Marcel Helbig plädieren dafür, die Entscheidung über die Schulform auf später zu verschieben, etwa auf die sechste oder sogar achte Klasse. Dies würde Kindern mehr Zeit geben, selbstständiger zu werden. Sie hätten dann „vielleicht auch schon viel mehr gelernt, sich selbst um ihr Schulzeugs zu kümmern“, gibt Angela Wanke-Schopf zu bedenken. Zudem könnte eine längere gemeinsame Lernzeit helfen, sozioökonomische Nachteile auszugleichen und Kindern aus bildungsfernen Familien bessere Chancen zu bieten. Marcel Helbig schlägt vor, in ländlichen Gebieten Gesamtschulen einzuführen, um den Schülern die Möglichkeit zu geben, das Abitur zu machen, ohne Umwege und weite Anfahrtswege.
Bildungschancen für mehr Schüler schaffen
Die Auswertung des Leibniz-Instituts für Bildungsverläufe offenbart, dass viele bayerische Kinder nicht die Schulkarrieren machen, die ihren Fähigkeiten entsprechen, weil sie aufgrund äußerer Umstände benachteiligt werden. Auch eine Studie des ifo Instituts (externer Link) bestätigt das: Die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder von Eltern mit niedrigerem Bildungsniveau und schwächerem finanziellen Hintergrund in Berlin ein Gymnasium besuchen, liegt bei 37 Prozent, in Bayern dagegen bei nur etwa 20 Prozent und damit bundesweit am niedrigsten. Eine Anpassung der Schulstruktur, insbesondere in ländlichen Gebieten, und die Berücksichtigung der sozialen und finanziellen Hintergründe der Familien könnten entscheidende Schritte in Richtung Chancengleichheit sein.