Wenn man sich anschaut, worüber sich die Buch-Community auf TikTok austauscht, dann ist da ein Thema, das immer wieder besprochen wird: „Bookies, wir müssen reden. Warum denken so viele von euch immer noch, lesen ist nicht politisch?“ Lesen sei politisch, so heißt es auf TikTok immer öfter. Aber was genau ist damit gemeint? Denn wenn man ein Buch aus dem Regal zieht, gehe es zunächst einmal ja um das Gefühl: „Oh mein Gott, ich will das lesen, das klingt so spannend“, sagt die Nürnbergerin Julia Bischoff.
Wenn Bischoff auf TikTok und Instagram als Chuliakaya über die Bücher spricht, die sie gerade liest, schauen dabei schon mal eine halbe Million zu, so viele Leute, wie an einem Spitzenwochenende aufs Oktoberfest gehen. Unter diesen Menschen sind einerseits die, mit denen sie sich täglich über Buchtipps austauscht. Aber auch andere: „Die meisten Hasskommentare von Männern bekomme ich, wenn ich sage, dass ich zum Beispiel weniger Männer lese, also weniger Autoren lese. Das ist immer was, wo Männer dann richtig sauer werden, weil sie sich exkludiert fühlen.“
Literatur als Transporteur politischer Themen
Warum lässt es viele nicht kalt, was Julia Bischoff liest? Sie stellt viele Bücher von Schwarzen und queeren Autoren und Autorinnen vor. Sie nimmt ihre Community mit auf ihrem Weg, sich als junge Frau über Romane, über Literatur mit feministischen Themen zu beschäftigen. Viele dieser Themen, sagt sie, hatte sie vorher gar nicht auf dem Schirm. Literatur als Transporteur politischer Themen: Das ist nicht neu. In der Romantik zum Beispiel war politische Distanz wichtig, im Vormärz kurz vor 1848 dann wieder politische Lyrik.
Literatur und Publikum stehen dabei in Wechselwirkung, sagt der Literaturwissenschaftler Johannes Franzen von der Universität Siegen. „Es ist auf jeden Fall so, dass in den letzten 20 Jahren eine zunehmende Politisierung des ästhetischen Diskurses literarischen Lebens zu beobachten ist, dass ästhetische Kriterien durch politische Kriterien nicht ersetzt, aber doch ein bisschen überwölbt werden.“ So rücke die Frage zunehmend in den Vordergrund, „wo die Autorin, der Autor, politisch“ stehe oder „welche politischen Aussagen beziehungsweise welche Gefahren oder Vorzüge ein bestimmtes Buch hat“.
Neu ist, dass jetzt das Publikum auch mitdiskutiert
Auch die Debatte über Bücher in den sozialen Medien wird entlang von politischen Kriterien geführt. Viele fragen sich zum Beispiel, ob sie noch Harry Potter lesen dürfen, obwohl die Autorin J.K. Rowling transfeindlichen Äußerungen im Netz macht. Ob wir es wollen oder nicht: Über die Auswahl der Bücher in unserem Schrank markieren wir immer auch eine politische Haltung – oder die Abwesenheit von politischem Interesse. Zumindest wird das den Lesenden bestimmter Genreliteratur immer wieder vorgeworfen: Romance, Fantasy, Romantasy – Bücher mit phantastischen Welten, in denen es schon mal zu Sex mit Dämonen kommen kann.
Ist das relevante Literatur? Oder schlimmer: Können solche Phantasien junge Menschen in ihrer sexuellen Entwicklung gefährden? Darüber wird teilweise empört gestritten und ist eine politische Diskussion, weil es um Macht geht. Neu ist, dass jetzt das Publikum auch mitdiskutiert, sagt Literaturwissenschaftler Franzen. „Wenn man diese Diskussion heute führt, muss man eben damit rechnen, dass die Leute, die man da gefährdet sieht, sich plötzlich melden und eine eigene Öffentlichkeit haben.“

