Ist man automatisch krank, wenn man mehrere Kilos zu viel hat? Diagnosen von Fettleibigkeit, also Adipositas, stützen sich überwiegend auf den Body-Mass-Index (BMI) – der ist aber Experten zufolge kein zuverlässiges Maß für die Gesundheit eines Menschen. Eine Medizinergruppe schlägt nun vor, die Diagnoserichtlinien für Adipositas zu überarbeiten. Neben dem BMI sollten unter anderem Daten zum Körperfett herangezogen werden, empfiehlt die Gruppe im Fachjournal „The Lancet Diabetes & Endocrinology“ (externer Link).
„Dieser Schritt war überfällig, weil wir wissen, dass zu viel Fettgewebe ein großes Gesundheitsrisiko darstellt, selbst wenn das noch nicht klinisch messbar ist“, sagt Professor Alexander Bartelt vom Institut für Prophylaxe und Epidemiologie der Kreislaufkrankheiten (IPEK) am LMU Klinikum, BR24.
Ein Viertel der Erwachsenen gilt als übergewichtig
Bisher wird für die Berechnung des BMI das Körpergewicht in Kilogramm durch die Körpergröße in Meter zum Quadrat geteilt. Derzeit gilt ein BMI von über 30 bei Menschen europäischer Abstammung als Hinweis auf Fettleibigkeit. In Deutschland sind laut Robert-Koch-Institut (externer Link) ein Viertel der Erwachsenen stark übergewichtig (adipös; BMI ≥30 kg/m2).
Die Ausgangslage ist komplex: Einerseits führt Fettleibigkeit zum Beispiel zu einem erhöhten Risiko für Typ-2-Diabetes, Herzerkrankungen und einige Krebsarten. Andererseits gelten auch Menschen als fettleibig, die zwar viel wiegen, aber sonst nur wenige oder keine gesundheitlichen Probleme haben.
Fettanlagerung unterschiedlich gefährlich
Schon seit langem wird kritisiert, dass der BMI-Wert die Verteilung von Fett nicht widerspiegelt und keine Informationen über Gesundheit und Krankheit liefert. „Sich bei der Diagnose von Fettleibigkeit allein auf den BMI zu verlassen, ist problematisch, da manche Menschen dazu neigen, überschüssiges Fett an der Taille oder in und um ihre Organe (…) zu speichern“, erklärte der Mitautor der Studie, Robert Eckel von der University of Colorado in Aurora. Das bedeute ein höheres Gesundheitsrisiko als überschüssiges Fett direkt unter der Haut zum Beispiel in Armen oder Beinen.
Die Kommission empfiehlt deshalb, für eine Diagnose nicht nur auf den BMI zu schauen, sondern etwa auch den Taillenumfang oder die Knochendichte hinzuzuziehen. Bei Menschen mit einem BMI über 40 könne jedoch grundsätzlich von übermäßigem Körperfett ausgegangen werden.
Professor Hans Hauner, Direktor des Else Kröner-Fresenius-Zentrums für Ernährungsmedizin der TU München, betont jedoch: „Wir sagen schon lange in den Leitlinien (externer Link), dass der BMI nur ein grobes Maß für Körperfett ist, weil er zum Beispiel nicht zwischen Muskel- und Fettmasse unterscheiden kann.“
Adipositas als Krankheit – neue Bezeichnungen
Die Experten um Francesco Rubino vom King’s College London schlagen nun vor, von einer „klinischen Fettleibigkeit“ zu sprechen und diese als Krankheit zu benennen, wenn die Organfunktionen beeinträchtigt sind. Kriterien für eine Diagnose wären etwa Probleme an Herz, Leber oder Lunge, ein hoher Cholesterinspiegel, Schlafapnoe sowie Schmerzen zum Beispiel in Hüfte oder Knien. Dagegen schlagen die Wissenschaftler für fettleibige Menschen ohne Probleme die Definition „präklinische Adipositas“ vor. Diese soll zwar überwacht, aber nicht medizinisch behandelt werden.
„Die Frage, ob Adipositas eine Krankheit ist, führt in die Irre, weil sie von einem unplausiblen Alles-oder-Nichts-Szenario ausgeht, bei dem Adipositas entweder immer eine Krankheit ist oder nie eine Krankheit“, so Rubino. Die Realität sei differenzierter: Einige blieben lange gesund, andere entwickelten direkt schwere Krankheiten.
Versorgung optimieren
„Wenn Adipositas nur als Risikofaktor und niemals als Krankheit betrachtet wird, kann dies dazu führen, dass Menschen, die allein aufgrund ihrer Adipositas erkrankt sind, der Zugang zu einer zeitnahen Versorgung verwehrt wird“, mahnt Rubino. Andererseits könne eine pauschale Definition von Adipositas als Krankheit zu einer Überdiagnose führen. Menschen mit „klinischer Adipositas“ benötigten schnellen Zugang zu Therapien, solche mit „präklinischer Adipositas“ individuelle Strategien.
Ernährungsmediziner sieht keinen echten Fortschritt
Hauner betont: „In der Praxis machen wir eine Behandlung immer am Einzelfall fest, wenn handfeste Gründe vorliegen.“ Zugleich merkt er an: „Die Diskussion um die Definition von Adipositas wird seit 25 Jahren geführt, ohne dass wir eine befriedigende Lösung haben.“ Der Ernährungsmediziner findet die Formulierungen in dem Lancet-Artikel eher „schwammig“ und sieht keinen echten Fortschritt. Demnach kann man erst ab einem BMI von 40 von einer „echten Adipositas“ sprechen, erklärt Hauner. Dies könnte dazu führen, dass Krankenkassen irgendwann sagten, dass es erst ab diesem Wert behandelt werden muss.
Und Bartelt betont: „Die beste Therapie ist immer die Prävention.“ Hierbei könnten Ernährungsberatung, Physiotherapie oder Medikamente wie die sogenannte Abnehmspritze eine wichtige Rolle spielen. „Ein klarer Vorteil wäre, dass die Patienten am Ende gesünder durch das Leben gehen und teure Therapien für chronische Folgeerkrankungen der Adipositas verhindert werden.“
Mit Informationen von dpa und AFP