Vor hundert Jahren tuckerte der Simplon-Orient-Express mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von etwa 55 Stundenkilometern von Paris nach Istanbul. Grund für diese Gemächlichkeit: Zahlreiche Grenzkontrollen und marode Strecken – vor dem Ersten Weltkrieg ging es noch etwas schneller. Und dann lässt Krimi-Autorin Agatha Christie den ohnehin schon sehr bedächtig vorwärts schnaufenden Luxus-Zug in ihrem berühmten Klassiker „Mord im Orientexpress“ (1934) zwischen Sofia und Belgrad auch noch in einer Schneewehe stecken bleiben und bremste die Lokomotive damit auf 0 km/h runter.
Stars verzeihen Zuschauer auch Stillstand
Kein Wunder also, dass auch das im März 2017 nach der Romanvorlage uraufgeführte Theaterstück von Ken Ludwig gefühlt nur im Schritttempo vorankommt. Das fiel bei den Verfilmungen von 1974 und 2017 nicht so auf, weil beide von den herrlich schrulligen Superstars lebten, die darin mitwirkten: Sean Connery, Lauren Bacall, Vanessa Redgrave und Ingrid Bergman in den siebziger Jahren – um nur einige zu nennen – und Johnny Depp, Penélope Cruz, Michelle Pfeiffer und Judi Dench in der Neuauflage. Solchen Schauspielern verzeiht der Zuschauer auf der Kino-Leinwand auch totalen Stillstand, weil ihre Egos schon spannend genug sind.
In einer Zeit, wo in TV-Krimis die Leichen im Halbstunden-Rhythmus abgearbeitet werden, erscheint der nostalgische „Mord im Orientexpress“ ansonsten ungefähr so fesselnd wie eine Fuchsjagd im britischen Hochadel. Daran konnte Regisseur Christoph Drewitz auch in seiner Inszenierung nichts ändern, die jetzt am Deutschen Theater in München Premiere hatte und die bis Ende Juni durch Deutschland und Österreich touren wird.
Kein Pomp der Belle Epoque
Trotz einer gut gelaunten und sehr soliden Besetzung wollte der Abend inhaltlich nicht vom Fleck kommen. Dabei versuchte es Drewitz anfangs mit sehr schnellen Dialog-Schnipseln, die vom Filmschnitt inspiriert waren. Aber im Schauspiel wirkt dieser Kniff eher anstrengend als mitreißend.
Sprechtheater wird im Deutschen Theater München ohnehin selten gegeben, normalerweise gastieren hier Musicals und Rockopern. Ein Song hier, etwas musikalische Untermalung da können nicht darüber hinwegtäuschen, dass „Mord im Orientexpress“ ein Schauspiel ist. Agatha-Christie-Fans müssen in der Ausstattung von Adam Nee dabei auf den Pomp der Belle Epoque verzichten. An einer kreisrunden Schiene baumeln Versatzstücke, die stetig hin- und hergeschoben werden und die Abteiltüren und -fenster symbolisieren sollen. Viel mehr Opulenz wird nicht geboten.
Es fehlte absurde Komik
Womöglich hätten dem Abend deutlich mehr absurde Komik und satirischer Biss geholfen, auch die ein oder andere schräge Persiflage, aber wer weiß: Die Inhaber der Urheberrechte an der Romanvorlage werden wohl ähnlich streng sein wie die Nachfahren von Bertolt Brecht und ungern mit sich spaßen lassen. Immerhin: Die Ton- und Lichtregie funktionierten einwandfrei.
Lob haben auch die Mitwirkenden verdient, die sich mal mit französisch-belgischem Akzent (Carsten Strauch als Hercule Poirot), mal mit russischem Einschlag (Yasmina Hempel als Gräfin Elena Andrenyi), mal mit schwedischer Aussprache (Glenna Weber als Greta Ohlsson) über zweieinhalb Stunden herumschlagen mussten. Diese Art innereuropäische kulturelle Aneignung gilt ja (noch) als einigermaßen politisch korrekt.
Behaglichkeit fürs Theater-Herz
Gemessen an den Produktionen deutscher Stadt- und Staatstheater ist dieser Krimi-Abend geradezu museal in seiner szenischen Betulichkeit. Andererseits: In Großbritannien gelten auf der Bühne ganz andere Gesetze, und das wissen auch viele deutsche Fans zu schätzen, die ins Londoner West End strömen. Dort ist „Fotorealismus“ noch angesagt, dort sieht die Ausstattung nicht selten so altertümlich und traditionell aus, als ob jeden Moment Oscar Wilde um die Ecke biegt. Warum soll diese Art Behaglichkeit nicht ab und zu das Theater-Herz erwärmen, auch in München?
Bis 4. Mai im Deutschen Theater München.