Bis zur diesjährigen Bundestagswahl war es vor allem die Rechte, die TikTok als politischen Raum erkannt und besetzt hatte. Die AfD habe schon vor drei, vier Jahren mit zahlreichen Partei- und Politiker-Accounts angefangen, sagt der Social-Media-Experte und Politikberater Martin Fuchs. Rechte Inhalte hätten so “viel Bass erzeugt, auch weil andere pro-demokratische Akteurinnen und Akteure dort nicht präsent waren”. Außerdem habe die AfD laut Fuchs früh verstanden, wie die politische Ansprache plattformgerecht funktioniert: mit starkem Einsatz von Emotionen.
Aber nicht zuletzt der virale Erfolg von Linken-Spitzenkandidatin Heidi Reichinnek zeigt, wie andere Parteien über die Jahre aufgeholt haben. „Wir haben aus dieser Wahl gelernt, dass es auch möglich ist am linken Rand erfolgreich zu sein und nicht nur am rechten“, sagt Kommunikationswissenschaftler Ohme.
“Progressive Inhalte” auf die Plattform bringen
Der Erfolg linker Content Creator auf TikTok ist auch nach Ansicht von Annika Kruse eine neuere Entwicklung: „Wer sich vor einem Jahr neu auf TikTok angemeldet hat, der hat vor allem politische Inhalte von der AfD und ihrem Umfeld gesehen“, so die Hamburger Studentin, die als „Fridays for Future“-Aktivistin im vergangenen Jahr das Hashtag #ReclaimTiktok mit ins Leben gerufen hat. Eine Kampagne, die verstärkt „progressive Inhalte“ auf die Plattform bringen wollte, sagt Kruse.
Raphael Klein aus München war zwar nicht Teil der Kampagne, hat sich vor der Bundestagwahl aber auf TikTok gezielt für die Linkspartei starkgemacht. Der Content Creator, der unter dem Namen „Honeybalecta“ in Erscheinung tritt, spricht in seinen Videos unter anderem von Umverteilung, Armut und Ungerechtigkeiten im Bildungssystem.
Die Berichterstattung über das „Potsdamer Geheimtreffen“ mit AfD-Politikern und verschiedenen rechtsextremen Akteuren hat Klein als Anlass genommen „sich klarer zu positionieren“, wie er im BR-Interview sagt. Heute hat der Münchner über 50.000 TikTok-Follower, seine Videos haben mehrere hunderttausend Aufrufe.
Die Linke umwirbt Influencer und Content Creator
Die Linkspartei hatte mehrere Content Creator wie Raphael Klein schon vor dem Aus der Ampel-Koalition zu ihrem Bundesparteitag eingeladen. Im Bundestagswahlkampf interviewte Klein die Linken-Spitzenkandidierenden für seinen TikTok-Account. Im BR-Interview sagt Thomas Lohmeier, bei der Linken für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig, teilweise habe die Partei für Influencer-Kooperationen auf ihren eigenen Accounts auch Honorare gezahlt. Das entstandene Influencer-Netzwerk wolle man weiter „pflegen und ausbauen“, sagt Lohmeier.
Keine abgeschotteten Filterblasen
Die Datenauswertung von BR und Stuttgarter Zeitung/Stuttgarter Nachrichten zeigt außerdem: Obwohl Nutzender in ihren Feeds schwerpunktmäßig Inhalte ihrer bevorzugten Partei sehen, geraten sie nicht in klar abgegrenzte Filterblasen: Jede Wählergruppe sieht immer wieder auch Inhalte anderer Parteien. Hinweise darauf, dass TikTok gezielt politische Vielfalt im Feed fördert, konnten im Datensatz nicht gefunden werden.