Sie hat den Notruf gewählt. Aber noch bevor sie sagen kann, wer und wo sie ist, legt sie wieder auf: „Zu spät.“ Ihr Name ist Ruby. Und sie arbeitet im „Reservat“. So heißt eine neue Netflix-Serie, und gemeint ist eine Villenkolonie in der Nähe von Kopenhagen. Geschützt wird hier also nicht die Natur, eine traditionelle Gemeinschaft oder ein wildes Tier, sondern die dänische Upperclass. Aber die kann ähnlich grausam sein wie Wölfe, hat Gärten wie kleine Nationalparks und bleibt am liebsten unter sich.
Seit Generationen vererben sie ihren Reichtum: „Ein Unternehmen in der vierten Generation zu führen, bedeutet, dass man seine gesamte tote Familie im Nacken hat“, kokettiert Rasmus (Lars Ranthe), für den Ruby arbeitet. „Er nennt sich Familienunternehmer – anderswo spricht man von Oligarchen“, würde die Soziologin Martyna Linartas wahrscheinlich dazu sagen. Bald sitzt dem Milliardär und seiner Frau nicht mehr nur die Familie im Nacken, sondern auch die Polizei.
Gesellschaftskritik bei Netflix
Ruby Tan (Donna Levkovski) ist das Au-pair der Familie. Und sie ist verschwunden. Aber ihr Pass, Geld und ihre Habseligkeiten hat sie zurückgelassen in ihrem schimmligen Zimmer im Keller der Oligarchenvilla. Ist sie geflohen? Oder ist sie tot? Krimis mit Gesellschaftskritik zu verschmelzen, wie in „Wallander“, „Die Brücke“ oder der Stieg-Larsson-Trilogie, hat in Skandinavien Tradition. Die Halbwertszeit dieser dänischen Krimi-Serie dürfte kürzer sein, für die Ewigkeit ist sie zu schematisch. Aber sie ist in über 40 Ländern in die Netflix-Charts geklettert und wurde von der Kritik fast ausnahmslos gefeiert. Denn sie bietet mehr als Unterhaltung: Sie klärt den Vermisstenfall nach und nach auf – vor allem aber rechnet sie mit der dänischen Oberschicht ab.
Die Hausherrin (Danica Curcic) weiß nicht mal den Nachnamen ihrer Hausangestellten Ruby. Vor deren Verschwinden hat sie die Philippinerin fingerschnipsend herumgescheucht wie ihren kleinen Hund. Ihre Nachbarin Cecilie (Marie Bach Hansen), die Hauptfigur der Serie, findet das entsetzlich. Unter den oberen Zehntausend ist sie die einzige, die herausfinden will, was dem Kindermädchen der Nachbarn passiert ist. Oder hat Cecilie nur ein schlechtes Gewissen? Kurz vor ihrem Verschwinden hatte sich Ruby hilfesuchend an sie gewandt – Cecilie ließ sie abblitzen.
Au-pairs: Austausch oder Ausbeutung?
Während Dänemark seine Einwanderungspolitik seit Jahren verschärft, ist das Au-pair-System einer der wenigen Wege ins Land. Vor allem Frauen entfliehen so der Armut in ihren Herkunftsländern und lassen ihre eigenen Angehörigen zurück, um für wenig Geld den Haushalt wohlhabender Familien zu führen.
„Ist das nicht kolonialistisch?“, fragt ein Arbeitskollege Cecilie in der Serie. „Ich habe auch eine – bin ich jetzt kolonialistisch?“, entgegnet sie. Und weiter: „Wir wollen Frauen auf den Arbeitsmarkt bringen, doch die Männer wollen nicht zu Hause mithelfen.“ Ihr Mann müsse sich, anders als sie, nie für das Au-pair rechtfertigen. Umso ernüchternder, dass ein Kritiker der „Süddeutschen Zeitung“ den Kern der Serie missversteht, wenn er schreibt, die Nachbarinnen Cecilie und Kat lebten in Saus und Braus ihrer vermögenden Männer, während ihnen philippinische Nannys sämtliche Hausarbeit abnehmen würden. Falsch: Erstens hat Cecilie selbst eine erfolgreiche Karriere. Zweitens nehmen Nannys nicht den Frauen die Hausarbeit ab, sondern beiden Geschlechtern.
Trotz Schwächen „Reservat“ zu Ende schauen
Leider liegt ein Grundstein für diese verkürzte Lesart in der Serie selbst. Sie versucht zwar zu differenzieren, bedient sich aber doch einiger Klischees, besonders bei den Frauenfiguren: die gefühlskalte Karrierefrau und Rabenmutter, die geldgierige „Trophy Wife“ mit Dauerschwips, die fürsorgliche Asiatin, die sich unterordnet.
Was also tun? Die Serie trotzdem zu Ende schauen. Denn „Das Reservat“ macht klar: Es braucht ein Umdenken in Sachen Care-Arbeit. Kurz redet sich Cecilie ein, sie hätte die gerechte Lösung: doch kein Kindermädchen mehr, alles selbst machen. So könne auch ihr Au-pair zur Familie auf den Philippinen zurückkehren, sie wolle sie beschützen. Aber die Entgegnung ihrer Angestellten Angel hallt nach: „Ich muss nicht von dir beschützt werden – ich brauche meinen Job!“ Wer Care-Chains wirklich sprengen will, muss Reichtum umverteilen. Und zwar global.