Ein Lapidarium – das ist eine Sammlung aus steinernen Skulpturen oder Denkmälern, wie man sie in Museen oder auf Friedhöfen findet. Wäre das neue Stück von Rainald Goetz eine Skulptur in einem Lapidarium: Man dürfte sie sich definitiv nicht als Quader mit klaren Konturen vorstellen, eher als amorphes Gebilde mit zahllosen Ecken und Kanten. Als Text wiederum erinnert es an jene Filme, die angeblich vor dem inneren Auge Sterbender ablaufen und deren Leben darin im Zeitraffer Revue passieren. Nur dass bei Rainald Goetz nicht erst der Tod, sondern bereits der Verfall zunehmenden Alters als Vorbote des eigenen Verschwindens zum Auslöser dafür wird.
Was bleibt nach dem Tod?
Wie als eine Art erster Gruß tippt der Tod dem „Ich“ in „Lapidarium“, das unverkennbar Züge des Autors trägt, auf einem Steg am Starnberger See auf die Schulter. Dort trifft sich das Erzähler-Ich mit Regielegende Helmut Dietl, der ihn zur Mitarbeit an einem Filmprojekt gewinnen will, in dem er seinen berühmtesten Serienfiguren, den ewigen Stenzen Monaco Franze und den Klatschreporter Baby Schimmerlos, noch einmal zum Leinwandleben erwecken will. Als roter Faden zieht sich die Beschreibung eines imaginierten Making-Of des ja eigentlich nur als Idee existierenden, nie realisierten Films durch das Stück, verwoben mit Tagebucheinträgen von Rainald Goetz und bewusstseinsstromartigen Passagen.
„Lapidarium“ ist ein Text, der davon handelt, was vom Leben und Denken der anderen, die einen geprägt haben, nach deren Tod in einem fortlebt; und was der schöpferische Mensch selbst dem Tod entgegenzusetzen hat – geschrieben in der Hoffnung, dass diesbezüglich im Schreiben eine Chance liegt, getrübt indes von dem Bewusstsein, dass der Mensch nie Herr der eigenen Geschichte sein kann, solange das Ende seines Lebens vorgeschrieben ist. Ein schillernder, faszinierender, aber erstmal gänzlich untheatraler Text.
Dietl, Kroetz und Achternbusch als Dialogpartner
„In Bildern denken, das kenne ich gar nicht. Es ist bei mir alles begrifflich geordnet, Sprache“, bekennt das Goetz-Ich einmal im Stück. Im Theater aber muss der Gedanke Gegenwart und vor allem Gestalt annehmen, das Abstrakte konkret werden. Regisseurin Elsa-Sophie Jach begegnet dieser Herausforderung, indem sie den Stücktext auf vier Schauspieler und zwei Schauspielerinnen aufteilt, die alle mal zu Alter-Egos des Autors werden, aber auch als Figuren, die ihm begegnen – neben Dietl auch noch Franz Xaver Kroetz, Herbert Achternbusch, Gerhard Polt, Sepp Bierbichler und unzählige mehr – wie Abspaltungen seiner selbst mit ihm in Dialog treten.
Zentrales Element des Bühnenbilds von Aleksandra Pavlović ist ein Steg, der die Bühne in ganzer Breite ausfüllt. Es ist der besagte Steg am Starnberger See, der aber auch zum Set für den herbeiimaginierten Dietl-Film wird. Weil das als Kulisse auf Dauer offenbar zu karg wäre, schleppt das Ensemble Schilf-Attrappen herbei, wechselt sich im Hintergrund ein Wolkenhimmel mit wildromantischem Bergseepanorama ab oder wird eine Leinwand aus blauer LKW-Plane mit weißer Farbe bepinselt, die wie Weißbierschaum aus Flaschen darauf verspritzt wird. Die Bildfindungen von Elsa-Sophie Jach sind eher assoziativ, erschließen sich nicht immer und vermitteln eher das Gefühl, an diesem Abend einer großen Kunstanstrengung beizuwohnen.
Text über den Tod zu Leben erweckt
Deutlich stärker ist die Inszenierung immer da, wo sie sich dem Sound des Textes hingibt; wo sie – mitunter musikalisch gestützt – das Wort Klang werden und in diesem Vorgang die Gedanken auf wundersame Weise plastisch werden lässt, statt sie irgendwie zu bebildern. Das ist natürlich auch ein Verdienst des – von der Regie glänzend geführten – sechsköpfigen Ensembles um Steven Scharf, Pia Händler und Nicola Mastroberardino, das diesen Text über den Tod zu veritablem Bühnenleben erweckt. Alles andere ist Beiwerk. Mehr oder weniger interessant anzuschauen, aber wenig erhellend.