đĄ Peter Jungblut beobachtet fĂŒr BR24 Kultur die Debatten hinter den Meldungen rund um den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Dazu verfolgt er russische Medien, Telegram-KanĂ€le und Social Media, und wertet die EinschĂ€tzungen / Stimmen dort dazu feuilletonistisch aus und ordnet ein. So zeigen wir, wie Millionen Menschen innerhalb der russischsprachigen Welt ĂŒber die Ereignisse diskutieren.
âNatĂŒrlich liegt es im â vor allem wirtschaftlichen â Interesse Moskaus, dass die MilitĂ€roperationen so schnell wie möglich eingestellt werdenâ, so der Chefkolumnist der auflagenstarken âMoskowski Komsomolezâ, Michail Rostowski, in einem Leitartikel [externer Link] zur allseits irritierenden ĂuĂerung von Alexander Lukaschenko ĂŒber ein mögliches âRemisâ in Putins Angriffskrieg [externer Link].
Der autoritĂ€r herrschende Politiker hatte sich dabei auf jĂŒngste Kontakte zu âklugen Vertreternâ des Westens berufen. Der anwesende russische AuĂenminister Sergei Lawrow hatte umgehend geantwortet, ein âUnentschiedenâ sei ânicht geeignet, einen möglichen Ausgang der russisch-ukrainischen Krise zu umschreibenâ, weil âes keine faire BerĂŒcksichtigung der Interessen der Parteienâ beinhalte.
Der kremltreue Kolumnist Rostowski sieht es Ă€hnlich: âEs gibt so etwas wie eine Rangfolge der PrioritĂ€ten. Den absoluten ersten Platz in diesem Ranking belegt der erfolgreiche Abschluss der Spezialoperation [wie die Kreml-Propaganda den Krieg beschönigend nennt]. Erfolgreich vor allem im Hinblick auf die psychologische Wahrnehmung in der Welt, nĂ€mlich gerade als bedingungsloser Triumph Moskaus.â Putin habe mit dem Krieg alles aufs Spiel gesetzt und könne sich daher nicht mit âKleinkramâ zufriedengeben, so die Argumentation.
âVielleicht auch der chinesische Standpunktâ
Deutlich gnĂ€diger urteilt der Kommentator des Wirtschaftsblatts âKommersantâ, Dmitri Drise [externer Link]: âInoffiziell wird vermutet, dass der belarussische PrĂ€sident informell die tatsĂ€chliche Position Russlands zum Ausdruck gebracht hat. Vielleicht auch den chinesischen Standpunkt. Auf jeden Fall liegen sie dicht beisammen.â
Möglicherweise werde allen Beteiligten der Preis fĂŒr den Krieg zu hoch, spekuliert Drise: âDie Ukraine verliert dabei logischerweise Territorium, bleibt aber ein souverĂ€ner Staat. Das ist natĂŒrlich kein Sieg, sondern das beste aller Ăbel. Die entscheidende Frage ist, was fĂŒr ein Staat bleiben wird â ein völlig unabhĂ€ngiger oder sagen wir mal, ein nicht ganz so unabhĂ€ngiger? Es besteht diesbezĂŒglich noch keine Klarheit.â
âTenöre und Bassisten in Russlandâ
Andere Blogger vermuteten, der Kreml wolle lediglich einen Keil zwischen Washington und Kiew treiben: âWird der Westen zustimmen, Selenskyj nach den amerikanischen Wahlen fallen zu lassen? Und wie weit ist der Kreml bereit, in diese Richtung auf den Westen zuzugehen?â Generell könne die Aussage Lukaschenkos darauf hindeuten, dass es auf allen Seiten immer noch genĂŒgend Leute gebe, die sich fĂŒr eine âBeruhigung der Lageâ einsetzten, so die EinschĂ€tzung eines russischen Politologen [externer Link].
Lukaschenko möge âdumm oder nĂ€rrisch, naiv oder sogar lĂ€cherlichâ wirken, sei jedoch immer sehr genau auf seinen Vorteil bedacht. Er habe womöglich nicht die Position einer bestimmten Person wiedergegeben, sondern eine Art âSammelsurium von WĂŒnschenâ geĂ€uĂert und seinen Wert als Vermittler in die Höhe treiben wollen: âSelbst wenn wir davon ausgehen, dass Russland nicht mit einer Stimme spricht, sondern sich polyphon Ă€uĂert, mĂŒssen wir die Frage stellen, was Lukaschenko mehr heraushört â unsere Tenöre oder die Bassisten (obwohl es unter denen durchaus verschiedene Tonlagen gibt).â Mit den âBassistenâ sind wohl die nationalistischen Scharfmacher gemeint.
Lukaschenko schickte Sohn nach Peking
Dass Lukaschenko hinter den Kulissen von China ermuntert wurde, ein âUnentschiedenâ auszuloten, kann sich ein russisches Polit-Portal mit 153.000 Fans durchaus vorstellen [externer Link]: âPeking erwartet eindeutig, dass Russland viel aufmerksamer auf chinesische âRatschlĂ€geâ hört und die eindeutige PrĂ€senz Chinas nicht nur in Zentralasien, sondern auch in Belarus zur Kenntnis nimmt. Minsk ist seinerseits einer engen Zusammenarbeit mit China nicht abgeneigt, und zwar so eng und aktiv, dass Lukaschenko seinen Sohn zum Studium an die UniversitĂ€t Peking (und nicht an die Moskauer) schickte.â
Russische Leser bezeichneten Lukaschenko als âschlaues kleines Kerlchenâ, andere forderten ironisch, ĂŒber ein âUnentschiedenâ unbedingt in MĂŒnchen zu verhandeln â eine Anspielung auf das dort unterzeichnete berĂŒchtigte Abkommen, womit 1938 die Tschechoslowakei aufgeteilt wurde. Lukaschenko selbst hatte schon vor einigen Tagen zu bedenken gegeben: âOkay, sagen wir mal, Russland hat die Ukraine erobert. Was dann? Bei jedem Schritt muss sich ein kluger, weiser Politiker fragen: âWas kommt danach?'â