Fritz Koeniger schaut hoch zum Fenster. Es ist das oberste, direkt unter dem Dach. 1945 hat er, damals zehn Jahre alt, mit seinen Eltern und sechs Geschwistern in diesem Haus gewohnt. In dem Zimmer hinter dem Fenster schliefen er und seine Brüder. Nie hat er vergessen, was er durch dieses Fenster gesehen hat. Von dort konnte er zum Zaun des KZ Dachau blicken.
Schrecken vor den Scheiben
Das Haus lag auf dem Gelände des Elektrizitätswerks, in dem sein Vater arbeitete, die Wohnung war eine Werkswohnung. Heute ist in dem Gebäude eine Baufirma untergebracht. Für die BR-Sendung „Stationen“ steigt Koeniger 80 Jahre nach Kriegsende noch einmal die Stufen zu seiner ehemaligen Wohnung in Dachau hinauf. Er betritt sein altes Zimmer. Und schaut aus dem Fenster. „Hier sind sie vorbeimarschiert“, sagt er. „Hier haben wir die Häftlinge gesehen.“ Vor dem Haus patrouillierten SS-Männer „mit ihren scharfen Hunden“, hat Koeniger wieder vor seinen Augen. Sie jagten Häftlinge, die auzubrechen versuchten. Derweil lag der Junge oben im Bett und hatte Angst. Und manchmal, erinnert sich Koeniger, da haben er und seine Geschwister auch das Krematorium gerochen.
Vor dem Haus hält der Todeszug
Vor ihrem Haus verliefen Gleise. Sie verbanden den Dachauer Bahnhof mit dem Lager. Die SS transportierte Gefangene hier teilweise in Güterwägen zum Westeingang des KZs. Zwei Tage vor der Befreiung des KZs Dachau, in der Nacht vom 27. April auf den 28. April 1945, hält ein Zug direkt vor dem Haus. Er kommt aus Buchenwald. In den Wagons sind 4.480 Menschen. Nur noch 816 von ihnen leben. Die SS lässt tausende Tote in den Waggons liegen. „Dieser Zug aus Buchenwald hat sich hineingebrannt in die Seele“, sagt Koeniger.
Die Angst im Keller und das Warten auf die Befreier
Am Tag darauf kauert der junge Fritz im Keller – genau wie seine Geschwister, die Mutter und Nachbarn. Sie wissen: Die Amerikaner kommen. Vorsorglich hat seine Mutter aus Bettlaken eine weiße Fahne genäht. Aber um die Fahne an den Mast zu hängen, muss sie am SS-Posten vorbei. Niemand weiß, ob er noch besetzt ist. Und zwischen Fahnenmast und Wohnhaus steht der Zug. „Sie musste irgendwo unter dem Zug durch“, erzählt Koeniger. Seine Mutter geht los. „Und wir haben auf sie gewartet. Wann kommt sie denn nun? Wann kommt sie endlich?“
Die Mutter schafft es, kehrt zurück. Aber wann kommt die US-Armee? „Ich kann mich noch an unsere Angst erinnern. Wir konnten uns nicht vorstellen, was die Amerikaner – offiziell die Feinde – mit uns machen“, sagt Koeniger. Kurz darauf öffnet sich die Kellertür: US-Soldaten. „Es waren zwei. Sie haben uns Kinder angelächelt.“ Am 29. April befreit die US-Armee das KZ Dachau. Aufnahmen des Lagers und des Todeszuges gehen um die Welt.
Fritz Koeniger: „Diese Not hat mich zur Sozialarbeit provoziert“
Im Lager werden erst SS-ler und später Heimatvertriebene untergebracht. Einer, der als Häftling der SS inhaftiert war, bleibt: Leonhard Roth. Der katholische Priester war einer von vielen gefangenen Geistlichen in Dachau. Roth bittet Koeniger, der da gerade sein Abitur in St. Ottilien gemacht hat, als Organist für seine Gottesdienste in der improvisierten Kirche auf dem Lagergelände zu spielen. „Für meine Entwicklung war dieser Pater, neben meinen Eltern, der wichtigste Mensch“, sagt Koeniger. Ermuntert von Roth studiert er Sozialpädagogik. Später baut Koeniger maßgeblich die Caritas in Dachau auf. „Diese Not, die ich hier erlebt habe, die hat mich provoziert zur Sozialarbeit“, erklärt Koeniger.
Wenn Fritz Koeniger heute vor seinem ehemaligen Wohnhaus steht, erinnert ihn noch vieles an seine Kindheit. Da ist der Gleisabschnitt, der zu Erinnerung an die Häftlingstransporte erhalten wurde. Und da ist das Fenster unter dem Dach. Vor ein paar Jahren hat Koeniger damit begonnen zu erzählen, was er durch dieses Fenster gesehen hat.