Höchste Zeit, dass die Kinder von „Hänsel und Gretel“ erlöst werden, dieser inzwischen über 130-jährigen Märchen-Oper, die die Spielpläne der deutschen Theater vor Weihnachten bekanntlich nach wie vor dominiert. Mag sein, dass die Geschichte aus der Märchensammlung der Brüder Grimm absolut zeitlos ist und psychoanalytische Tiefe hat, aber trifft die wagnerianische Musik von Engelbert Humperdinck heutzutage noch so ausschließlich den Geschmack des jungen Publikums?
Wohl kaum! Insofern war es erfreulich, dass die Deutsche Oper Berlin mit Detlev Glanerts „Drei Rätseln“ in die bevorstehende Weihnachtssaison geht. Diese Oper für Kinder und Erwachsene aus dem Jahr 2003 ist opulent, großformatig, unterhaltsam, hat eine bunte Oberfläche und ein ernsthaftes Anliegen, kurz: Ihr wäre deutlich mehr Präsenz zu wünschen.
„Man muss Kindern die Angst nehmen“
Detlev Glanert gegenüber dem BR: „Das, was man für Kinder schreibt, muss einerseits erfassbar sein in der Form und in der Länge und in der äußeren Gestalt. Es muss gleichzeitig immer etwas Neues bieten, was Kinder noch nicht kennen, woran sie sich mit Wonne die Zähne ausbeißen können, das muss sein.“
Alban Bergs (1885 – 1935) Ausspruch, wonach man immer wissen müsse, ‚wie weit man zu weit gehen darf‘, habe nach wie Gültigkeit: „Kinder spüren die Tiefe, die sehen sie vielleicht nicht, aber sie spüren sie. Und Kinder sind auch konfrontiert in ihrem kleinen Leben mit schrecklichen Dingen, manchmal mit Tod, mit Armut, mit unangenehmen Situationen. Und die Angst davor muss man ihn nehmen.“
„Stimmbänder werden größer“
Im Textbuch von Carlo Pasquini geht es um den vielfach bearbeiteten Turandot-Stoff, wobei die Prinzessin Scharada die titelgebenden Rätsel hier nicht stellt, sondern beantworten muss. Lasso, der kindliche Held, flüchtet vor seiner bösen Mutter, muss allerlei Abenteuer bestehen, auch in einem Sarg übers Wasser schippern, droht, geköpft zu werden, und bricht am Ende mit der Prinzessin beglückt auf in ein neues Leben, wie man annehmen darf: nach der Pubertät.
Detlev Glanert ist einen wenigen zeitgenössischen Opernkomponisten, der sich auf Theaterpraxis versteht, auf Bühnenhandwerk, auf Mehrheitsfähigkeit und emotionale Überwältigung. Dabei erfordern Opern für Kinderdarsteller natürlich besonderes Gespür, wie Glanert erklärt: „Ohne große Hungerkrisen nehmen wir sehr viel mehr Vitamine zu uns und die Menschen werden sehr viel größer, damit auch ihre Stimmbänder, das ist interessant. Wir haben ja bekannterweise einen Tenöre-Mangel, während es vor 300 Jahren einen Bassisten-Mangel gab.“
„Was habt ihr denn gesehen?“
Weil sich die Körpermaße änderten, änderten sich auch die Stimmlagen der Heranwachsenden: „Es ist so, dass die Menschen sehr viel größer werden und Partien für Kinder, die vor 100 oder 150 Jahren geschrieben worden sind, für sie heute meistens einen Tick zu hoch liegen.“
Ohne solche Kenntnisse fällt es schwer, moderne Opern für junge Leute zu schreiben. Glanert verweist zum Beispiel darauf, dass die heutige nachwachsende Generation von tonaler, stark rhythmischer Musik geprägt sei, weshalb es unabdingbar sei, diesen Zeitgeschmack zu berücksichtigen, auch, wenn man ihn nicht unbedingt imitieren müsse.
„Das Erschütternde und Interessante ist, dass ich sehr viele Studenten habe, die mir sagen, sie wollen Opern komponieren. Dann ist meine Gegenfrage: Was habt ihr denn gesehen? Und sehr oft kommt raus: Die waren noch nie in der Oper!“, so Glanert: „Die haben das im Internet gesehen und finden das toll, da ist ja ein gewisses Renommee mit verbunden, und wollen das auch machen. Ich habe sie dann gezwungen, hinzugehen, weil sie müssen bei den Proben dabei sein, sie müssen Theater erfahren.“
Erstaunlich modernes Königreich Busillis
Wer für das Theater schreibt, zumal für Kinder, muss Ahnung haben von all den technischen und personellen Begleitumständen so einer Produktion, das ist leider selten der Fall.
Glanerts Oper „Drei Rätsel“ richtet sich ausdrücklich an „Kinder und Erwachsene“ und hält diesen Anspruch auch ein: Es geht um Armut, Tod, Enttäuschung, Gier und Alkoholismus, aber auch um Tapferkeit, Liebe, Selbstlosigkeit und Lebensklugheit. Nicht von ungefähr lassen sich ja auch fast alle Märchen der Brüder Grimm psychoanalytisch deuten, sie haben Oberfläche und Tiefe.
Emil Vandersee und Milla Luisa Dell’Anna, die beiden kindlichen Hauptdarsteller, machten ihre Sache wirklich gut vor den rund 1.900 Zuschauern in der Deutschen Oper Berlin. Alle Achtung auch, was der Kinderchor und die Kinder im Orchester unter Leitung von Dirigent Dominic Limburg aus der fast schon monumentalen Partitur herausholten.
Regisseurin Brigitte Dethier und ihrer Ausstatterin Carolin Mittler gelang mit den „Drei Rätseln“ ein ungemein poetisches, bisweilen satirisches, vor allem jedoch amüsantes Opernerlebnis. Stehende Ovationen für das Leben, Sterben und Treiben im erstaunlich modernen Königreich Busillis!
Wieder am 17. und 19. Oktober an der Deutschen Oper Berlin, weitere Termine.