Warum, das wird Thomas Brasch 1982 im Radio-Interview gefragt, schreibt er so oft über die Gescheiterten? Die Außenseiter? Seine Antwort: „Das ist einfach zuerst einmal etwas, was im Grunde jeden Schriftsteller bewegt seit Aischylos, nämlich: dass an Außenseitern oder an Leuten, die in einem Konflikt mit der Gesellschaft sind, die an ihrem Rand sich bewegen, die Gesellschaft am deutlichsten zu erzählen ist.“
„Die Gesellschaft erzählen“ über ihre Konflikte und Widersprüche: Das ist schon fast das Kunstprogramm des Thomas Brasch. Er war Dichter, Theaterautor, Filmemacher, sein Prosawerk liegt nun in einem gewichtigen Band vor: 700 Seiten Fiktion und Essay, ausgefeilte Erzählungen und Skizzen, Filmexposés, Tagebucheinträge, Veröffentlichtes und Texte aus dem Nachlass. Gerade in dieser Zusammenschau ganz unterschiedlicher Formate ein imposantes Buch, das Einblick gibt in die Produktion eines Rastlosen.
Ein Künstler in Lederjacke und mit Zigarette
„Vor den Vätern sterben die Söhne“, die bekannteste Veröffentlichung von Thomas Brasch, steht am Anfang des Buches. Erzählungen über die sozialistische Arbeitswelt, motorradfahrende Rebellen, Fluchtpläne, Sex – zu widerständig für die DDR. Die jüdischen Eltern von Thomas Brasch waren nach Kriegsende aus dem englischen Exil nach Ostdeutschland gegangen, der Vater machte Karriere bis zum stellvertretenden Kulturminister. Sein Sohn verteilte 1968 Flugblätter gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings, wurde verhaftet, später als Fräser in die Produktion versetzt.
1976 ging er in den Westen. Dort konnte er publizieren, wurde befragt, gefeiert, zweimal mit einem Film nach Cannes eingeladen. Ein Künstler in Lederjacke und mit Zigarette, schön, traurig, wütend – der Vorzeige-Dissident von „drüben“ aber wollte Brasch nicht sein. Als Franz Josef Strauß ihm den Bayerischen Filmpreis überreichte, kam es bei seiner Dankesrede, die im Buch nachzulesen ist, zum Tumult, weil er der „Filmhochschule der DDR“ für seine Ausbildung dankte.
Im Bayerischen Rundfunk sollte Brasch Stellung beziehen: Geht das, einen staatlichen Scheck entgegennehmen – und zugleich Fundamentalkritik üben? „Ich glaube, so egoistisch wie der Staat ist, der ja auch nicht a priori gut oder schlecht ist, sondern der aus Widersprüchen gemacht ist, so ist es auch der Einzelne.“
Die Texte haben etwas sehr Gegenwärtiges
Die Utopie eines guten Sozialismus hat Thomas Brasch nie aufgegeben, sozialistischen Realismus aber hat er nicht geschrieben: keine Thesenerzählungen, kein Personal, mit dem man sich identifizieren könnte. Stattdessen übersetzt er die gut marxistische Kategorie der Entfremdung in Literatur, mit Anleihen beim Mythos oder der Verbindung von Wirklichkeit und Surrealem. Und das in kraftvoller, schlackenloser Sprache – Adjektive seien am besten zu „killen“, hält er fest. Der Lyriker und Theaterautor Brasch wird oft mit Brecht oder Heiner Müller verglichen, wer seine Prosa liest, denkt auch an Kafka.
In ihrer Energie haben die Texte von Thomas Brasch etwas sehr Gegenwärtiges, dass sie aus einer anderen Zeit stammen, zeigt sich etwa an Geschlechterbildern: Der erotische Existenzialismus bei Brasch liebt Männlichkeitsgesten. Lesen sollte man diesen Autor unbedingt – und der von Martina Hanf herausgegebene, sorgfältig kommentierte Band ist eine großartige Einladung dazu.