Ocean Vuong beginnt seinen Roman dort, wo andere Autoren aufhören würden. Hai, ein junger Mann, der in den USA lebt, Kind einer vietnamesischen Familie, steht auf einer Brücke. Einen Moment lang ist er bereit zu springen, da pfeift ihn eine kauzige Alte zurück.
Sein Leben ist gerettet und nicht wenige Autoren würden mit diesem erzählerischen Höhepunkt schließen. Ocean Vuong aber legt hier los – denn seine Frage ist nicht: Wie kommt es zum Suizid? Sondern: Wie fühlt sich das Leben für einen an, der von der Brücke geholt wurde? „Denn worüber wir nicht so oft sprechen, ist doch, dass sich Suizid – auf gewisse Art – einer Hoffnung verdankt“, erklärt Ocean Vuong im Gespräch. „Da hofft jemand, dass das Leid aufhört.“
Was dieses Buch also herauszufinden versucht, ist: Wie sieht ein Leben aus, in dem es diese Hoffnung gab – und sie fallen gelassen wurde. In dem ein Mann zurückgeht in die Welt, die er als unerträglich empfindet.
Wohngemeinschaft von zwei Strauchelnden
Um dieser Frage nachzugehen, lässt Ocean Vuong Hai auf Grazina treffen – so heißt die alte Frau, die ihn von der Brücke geholt hat. Sie wohnt neben der Brücke in einem heruntergekommenen Häuschen, ist dement und nachts werden die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg wach, der sie aus Litauen in die USA getrieben hat. Aber obwohl sie nichts hat, gewährt sie Hai Quartier und macht aus ihrer Hütte ein Zuhause, eine Art Schutzraum für zwei Menschen, die allein keinen Halt finden.
Was klingt wie ein klassischer Plotpoint, wie ein Neustart in ein vielleicht verschrobenes, aber doch besseren Leben, ist es nicht. Ein „Happy End“ sieht Ocean Vuongs neues Buch „Der Kaiser der Freude“ nicht vor. Niemand wird reich, niemand schafft es – durch Bildung oder einen Ortswechsel –, seinem Leben eine Wendung zu geben.
Er konstruiert keine Wendepunkte, um die Schönheit, den Wert des Lebens von Hai und Grazina zu zeigen. Er spürt beides in ihrem Alltag auf – einem statischen Alltag ohne jeden Fortschritt, aber eben nicht ohne Szenen, in denen sich Freundlichkeit zeigt. Solche Szenen sind die Höhepunkte dieses Romans.
Sprache von großer Wärme
Kurze Momente von Glück, nicht mehr, aber auch nicht weniger: „Wie seltsam, so etwas wie Gnade zu empfinden, was immer das war, und noch seltsamer, dass sie sich ausgerechnet an diesem Ort einstellte, am Ende einer Straße verfallener Häuser an einem vergifteten Fluss“, heißt es einmal in dem Roman.
Dass Ocean Vuong Anmut und Gnade hinter Türen aufspürt, hinter denen sie wenige erwarten würden, dass er für sie eine Sprache findet, die von großer Sinnlichkeit und Wärme ist, ist das eine sehr Berührende an diesem Roman. Das andere ist, dass dieser Autor erkundet, unter welchen Umständen ein Mensch offen sprechen kann.
Wo Menschlichkeit durchbricht
Einmal zum Beispiel steht Hai in der Kühlkammer des Fastfood-Restaurants, in dem er Arbeit gefunden hat – in einem Restaurant, das den Menschen, die dort arbeiten, ihrer Menschlichkeit beraubt. Ein Paar nützliche Hände sollen sie sein, uniformierte Arbeitsmaschinen, die Kunden anlächeln, die nur Verachtung für sie übrighaben.
Aber, sagt Ocean Vuong: „Es gibt da eine Szene, da merkt eine Figur in einer Kühlkammer, dass sie Brustkrebs haben könnte. Die beiden stehen in dieser Kammer und die Frau sagt: ‚Ich habe Angst.‘ Die Leute, die Fastfood-Restaurants erfunden haben, haben sich nicht vorgestellt, dass ein Mensch einem anderen hier seine Angst gesteht. Und trotzdem passiert es. Das interessiert mich, weil es mir subversiv zu sein scheint – so, als stecke da was drin, was Poesie für mich ist, philosophisch gesprochen: Poesie ist, wenn du etwas auf eine Art sagen kannst, die nicht für dich vorgesehen ist.“
Ocean Vuong ist nicht nur deshalb eine so wichtige literarische Stimme in den USA, weil er den Blick auf Menschen am Rand dieser Gesellschaft lenkt. Seine Literatur ist bedeutend, weil sich der Autor der Frage stellt, welche Erzählweisen, welche dramaturgischen Muster durchgeschüttelt gehören, um diesen Geschichten gerecht zu werden – in ihrer Härte, aber eben auch in ihrem Trost und ihrer Schönheit. Und gerade ihr, der Schönheit im Leben seiner Figuren, spürt Ocean Vuong in diesem Roman bis zur Schmerzgrenze nach.