Eine Anhöhe am Westufer des Starnberger Sees – und eine existenzielle Station im Leben des selbsternannten Provinz-Schriftstellers Oskar Maria Graf. Dr. Dirk Heißerer ist selbsternannter „Literarischer Spaziergänger“ und erzählt: „Es ist oberhalb vom See, man muss sich mühsam hochkämpfen, mit herrlichem Blick, wo der Vater von Oskar Maria Graf der Mutter den Heiratsantrag gemacht hat. An einem so exponierten Platz, wo man einfach nicht Nein sagen kann.“
Seit den späten 80ern führt er Interessierte auch an Orte in Bayern – immer der Literaturgeschichte hinterher: Mal haben sie mit der Biografie von Berühmtheiten zu tun, aber auch Romanschauplätze steuert er an. Den Marienplatz in München zum Beispiel, ein Handlungsort in Thomas Manns Lübeck-Roman „Die Buddenbrooks“.
Hogwarts in der Juristischen Bibliothek?
Orte zu begehen, von denen man sich vorher nur lesend ein Bild gemacht hat, macht Literatur sinnlich erfahrbar. Und das Interesse daran nimmt anscheinend zu. International betrachtet: Der Veranstalter Eventbrite verzeichnete 2023 einen Anstieg von 26 Prozent bei Angeboten im Zusammenhang mit Büchern. Einmal in den Landschaften stehen, in die Emily Bronte ihren Roman „Sturmhöhe“ hinein imaginiert hat – das zieht bei einem Social-Media-relevanten Dauerbrenner wie „Sturmhöhe“ auch ein jüngeres Publikum an.
Und wenn die Orte ausgedacht sind, wie im Fantasy-Bereich? Dann behilft man sich anders. Wie die Besucher der Juristischen Bibliothek München, die auf TikTok in Videos zwischen vergoldeten Wendeltreppen und Bücherregalen bis an die Decke staunend an eine ganz bestimmte Zauberschule namens Hogwarts denken.
Reise-Tipps von Fans für Fans
Wenn jetzt all diese Bücherwürmer durch die Lande ziehen, um Orte zu sehen, die sie vorher literarisch entdeckt haben – nehmen sie das Geschriebene dann nicht etwas zu wortwörtlich? Christine Lötscher, Professorin für populäre Literatur und Medien, gibt aktuell ein Seminar zu Literaturtourismus – an der Universität Zürich. Sie sagt, es gehe beim literarischen Tourismus nicht darum, was die Texte mit den Lesern machen – sondern darum, was die Leser mit den Texten machen: „Den literaturtouristischen Praktiken liegt ein anderes Literaturverständnis zugrunde. Ich war jetzt gerade mit meinen Studierenden im Heidi-Dorf in Maienfeld, also da wo Heidi gelebt haben soll. Am Schluss haben wir uns stundenlang im Heidi-Shop Merchandise-Artikel angeschaut. Fanpraktiken gehören dazu, eben unter anderem sammeln, zusammen etwas unternehmen.“
Den Gemeinschaftsaspekt kann man natürlich besonders gut auf Social Media beobachten. Dort werden die eigenen Besuche dokumentiert – und anderen empfohlen. Ein bisschen wie Reise-Tipps von Fans für Fans, mit denen man sich über das gemeinsame Interesse verbunden fühlt. Die Suche nach fiktionalen Welten ist dagegen eher ein neueres Phänomen, sagt Christine Lötscher: ein Spiel mit der Grenze zwischen Fiktion und Realität. Etwa, wenn Orte gesucht werden, die so sind, wie man sich die Orte in der Zauberwelt von Harry Potter vorstellt.
Dass wir diesen Trend ausgerechnet jetzt erleben, ist vermutlich gar nicht so zufällig, meint Löscher: „Das ist ja ein großes Thema unserer Zeit: Was ist Narration? Was ist Fiktion? Was ist Realität? Unsere Wirklichkeit ist so von medialen Erzählungen durchdrungen, dass das wirklich manchmal nicht so leicht zu entscheiden ist. Und deswegen ist mein Eindruck, dass Orte gesucht werden, an denen damit gespielt werden kann.“