Er hatte noch einen großen Traum: Juri Grigorowitsch wollte unbedingt 99 werden und das Jahr 2026 erleben, weil sich dann der 250. Geburtstag des deutschen Romantikers E.T.A. Hoffmann (1786 – 1822) jährt. Er schuf die literarische Vorlage für das Ballett „Der Nussknacker“, dem Grigorowitsch „psychotherapeutische“ Wirkung nachsagte. Der greise Künstler hoffte auf eine Festaufführung im Moskauer Bolschoi-Theater. Die ist ihm nun leider nicht mehr vergönnt.
In gewisser Weise war Juri Grigorowitsch auch ein „Achtundsechziger“, was bei ihm aber nichts mit den Studentenrevolutionen im Westen zu tun hatte. Damals kam am Moskauer Bolschoi-Theater sein Ballett „Spartacus“ nach der Musik des armenischen Komponisten Aram Chatschaturjan heraus. Erzählt wird die bekannte Geschichte aus dem antiken Rom, wo der Ex-Gladiator Spartacus einige Jahre Angst und Schrecken verbreitete. Für die sowjetischen Kommunisten war Spartacus der Inbegriff des proletarischen Revolutionärs, der nur durch Verrat am Sieg gehindert wurde. Im Dezember 2016 war das Werk beim Bayerischen Staatsballett in München zu sehen.
„Netter Opa von nebenan“
Damals war die Skepsis im Vorfeld groß: ein Original-Ballett aus Moskaus sowjetischer Ära, mit all ihrem Pathos? Es wurde gleichwohl zu einem Publikumserfolg. Grigorowitsch kam mit 90 Jahren persönlich angereist, um die Endproben zu begutachten und stellte sich dem Applaus. Da wirkte er in seinem beigen Wollpulli wie der „nette Opa von nebenan“, wie es die BR-Kritikerin damals ausdrückte.
Jetzt ist Grigorowitsch im Alter von 98 Jahren gestorben, wie sein Assistent Alexander Kolesnikow der russischen Nachrichtenagentur TASS bestätigte. Einzelheiten sollen später bekannt gegeben werden, auch der Tag der Beisetzung.
In den 1940er und 1950er Jahren war Grigorowitsch Solist am Leningrader Kirow-Theater. 1964 wechselte er als Chefchoreograf an das Bolschoi-Theater in Moskau, wo er bis 1995 tätig war. Seit 2008 war er dort abermals als Choreograph engagiert. Zu den acht Handlungsballetten, die Grigorowitsch schuf, gehören neben „Spartacus“ die modernen Klassiker „Iwan der Schreckliche“ (1975), „Die Steinblume“ (1959), „Der Nussknacker“ (1966) und „Romeo und Julia“ (1979).
„Unangenehmes Gefühl des Stillstands“
Zu seinem 98. Geburtstag im vergangenen Jahr hatte der Choreograph in einem TASS-Interview gesagt [externer Link]: „Ein gibt ein unangenehmes Gefühl des Stillstands im künstlerischen Leben. Sie übernehmen alles aus dem letzten Jahrhundert und probieren es an einer neuen Künstlergeneration aus. Und wo sind die originalen großen Partituren, die großen Ideen, die großen Entscheidungen, auf denen allein die Arbeit einer großen Truppe basieren kann? Seltsam.“
Bei dieser Gelegenheit hatte Grigorowitsch auch Putins Angriffskrieg in höflichen Worten kritisiert: „Ich schaue mir die Nachrichten an und denke unwillkürlich: Wer drückt als Erster den tödlichen Knopf, ist genug Intelligenz und Beharrlichkeit vorhanden, um die Hand zurückzuhalten? Und was bleibt dann von uns allen, mit unseren kreativen Erfahrungen, der Musik, der gesamten Kultur der Menschheit, die, so scheint es, über Jahrhunderte hinweg für Sie und mich angesammelt wurde, um alle glücklich zu machen.“
„Schwierig, Emotionen 50 Mal zu mobilisieren“
Besorgt war der Choreograph auch darüber, dass anspruchsvolle Ballette wie der „Nussknacker“ zu häufig auf die Spielpläne gesetzt und damit in ihrer Bedeutung geschmälert würden: „Für Künstler ist es schwierig, 50 Mal hintereinander ihre Emotionen maximal zu mobilisieren. Obwohl sie technisch und von der Disziplin her auf dem Höhepunkt ihrer Leistungsfähigkeit sein können, daran habe ich keinen Zweifel.“
Vom St. Petersburger Mariinski-Theater hieß es in einer Würdigung: „Mit dem legendären Choreografen ist eine ganze Ära zu Ende gegangen. Er ging mit der Zeit und blickte mutig in die Zukunft: Heute bilden seine Aufführungen zu Recht das goldene Repertoire der Ballettkunst und verblüffen, unabhängig vom Produktionszeitpunkt, durch die Modernität des künstlerischen Ausdrucks.“
In den Leserkommentaren russischer Blätter wurde Grigorowitsch in den höchsten Tönen gelobt [externer Link]: „Das Genie der Ballettproduktionen ist gestorben! Alle seine Ballette sind einzigartige Meisterwerke, das ist nur für einen wirklich kultivierten, gebildeten Zuschauer zu begreifen, von denen es heutzutage nur noch sehr wenige gibt, genau wie Genies.“ Das Bolschoi-Theater habe unter ihm seine „Blütezeit“ erlebt.