In den 1970er- und 80er-Jahren war sie die weibliche Leitfigur im Extrembergsteigen: die polnische Bergsteigerin Wanda Rutkiewicz, eine absolute Ausnahme-Alpinistin. Sie stand als erste Frau auf dem K2, war die dritte Frau auf dem Mount Everest. Und sie wollte alle 14 Achttausender besteigen.
Doch im Mai 1992 verschwand Rutkiewicz am knapp 8.600 Meter hohen Kangchendzönga, dem dritthöchsten Achttausender. Bis heute ist sie verschollen, viele Fragen sind offen. War es ein tödlicher Absturz oder eine politisch motivierte Flucht in ein entlegenes tibetisches Kloster? Mit diesen Fragen befasst sich der Dokumentarfilm „The Last Expedition“.
Regie geführt hat die polnische Filmemacherin Eliza Kubarska, selbst Spitzen-Alpinistin. Sie verwendet viel historisches Material, auch Originalaufnahmen von Rutkiewicz und ihren Kollegen und Kolleginnen. Zu Wort kommt unter anderem der mexikanische Extrembergsteiger Carlos Carsolio. Er hat Rutkiewicz als Letzter gesehen, weit oben auf der Nordseite des Kangchendzönga. Es war ein eiskalter Tag mit starkem Höhenwind. Doch Rutkiewicz wollte nicht mit ihm absteigen. Was dann geschah, weiß niemand.
Ist sie abgestürzt, erfroren oder untergetaucht?
„Das Mysterium bleibt“, sagt die Garmischer Extrembergsteigerin Billi Bierling, die in Kathmandu das Expeditionsarchiv, die „Himalayan Database“, leitet. Den Gipfel des Kangchendzönga habe Rutkiewicz vermutlich nicht erreicht: „Sie war sehr langsam unterwegs, ohne Sauerstoffflaschen. Und sie war auch spät unterwegs.“
Ist sie abgestürzt, erschöpft erfroren, höhenkrank gestorben – oder doch in einem entlegenen Kloster untergetaucht, weil sie aus politischen Gründen nicht mehr zurück nach Polen wollte? „Das ist eine romantische Idee und ich würde sagen: Nein, auf keinen Fall“, so Bierling. „Aber es gibt viele Dinge, die wir uns nicht vorstellen können. Also vielleicht hat sie das gemacht. Aber man muss schon sagen: Es gibt viele Menschen, die in den Bergen ihr Leben lassen mussten und nie gefunden wurden. Die Berge verschlucken einen auch.“
Einzelgängerin in einer Männerdomäne
Karl Schrag war Teilnehmer der deutschen Kangchendzönga-Expedition 1992 und zeitgleich mit Rutkiewicz im Basislager: „Wir hatten immer mal wieder losen Kontakt und einen Abend, an dem wir uns zusammengesetzt und groß aufgekocht haben. Aber ansonsten war Wanda recht reserviert, zurückhaltend, hatte ihr eigenes Zelt; bisschen abseits und war recht gerne allein. Sie ist auch immer ihr eigenes Tempo gegangen.“ Das sei nie in der Gruppe gewesen, sie habe sich nicht treiben lassen wollen.
Was auch immer am Kangchendzönga passiert ist – fest steht, dass Rutkiewicz es im Leben nicht leicht hatte. Ihr jüngerer Bruder wurde im Alter von fünf Jahren von einer Landmine getötet, ihr Vater von Landstreichern ermordet. Viele Jahre lebte sie in Armut. Vermutlich rührte daher ihr unbedingter Wille zur äußeren wie inneren Freiheit. Zumal sie in der polnischen Bergsteigerwelt stark angefeindet wurde.
Geschichte mit spiritueller Dimension
„In Polen musste sie mit Männern zurechtkommen, die stolz darauf waren, Machos zu sein“, sagt Reinhold Messner dazu im Film. Rutkiewicz habe in der von Männern dominierten Bergsteigerwelt einiges mitmachen müssen, ergänzt Bierling, und äußert die Vermutung, dass sie auch mit viel Neid konfrontiert war. Insofern ist „The Last Expedition“ nicht nur ein dokumentarischer Bergfilm, sondern auch eine Geschichte mit spiritueller Dimension. Denn, so Bierling: „Man darf nicht vergessen, dass der Kangchendzönga ein heiliger Berg ist. Die Menschen dort bekommen Kraft von diesem Berg.“
Ob Rutkiewicz 1992 ihre Kräfte verlassen haben, kann „The Last Expedition“ nicht beantworten. Das Ende dieses dennoch spannend erzählten Dokumentarfilms bleibt offen.