Wie ein Fashion-Foto wirkt dieses Halbporträt einer jungen blonden Frau aus Florida: knalliges Outfit, Zigarette im Mund – kommt man näher, entdeckt man ihre Narben, die abgekauten Nägel: „Eine drogenabhängige, sehr nette Frau. Ich hab ihr gesagt, sie soll damit aufhören, weil sie sich sonst umbringt. Als ich sechs Monate später nochmal kam, war sie leider tot. Sie sagte: Ich höre mit den Drogen auf, wenn ich soweit bin. Aber sie hat wohl damit aufgehört, bevor sie soweit war“, erzählt der Fotograf Bruce Gilden. Zufällig haben sich ihre Wege gekreuzt.
Der berühmte Magnum-Fotograf Bruce Gilden: wache Augen, dominante Brille. Das Haar schon etwas schütter. Geboren 1946 in Brooklyn, der Vater: Altreifenhändler und Gangster. Die Mutter: Alkoholikerin. Er selbst? Eine Art Robin Hood mit der Kamera – und der Mission, Menschen, ihre Würde zurückzugeben. Ihr Leben einzufangen, jede Pore davon. Die ganze Geschichte zu zeigen, die immer auch ein bisschen seine eigene ist: „Ich war immer ein Ausreißer, ein Querkopf. Mit fünf wollte ich Boxer werden, einen Affen haben, Schlagzeug spielen und war fasziniert von berühmten Wrestlern. Also das steckt in meiner Seele, meiner DNA. Ich hab das nicht gelernt oder mir angeeignet – ich hab mich den Underdogs schon immer nahe gefühlt.“
Außenseiter im monumentalen Format
Das Drogenopfer im Halbporträt ist eine von vielen Underdogs der Ausstellung „A Closer Look“ im Münchner Kunstfoyer. Es geht aber auch noch näher: Die Serie „Faces“ zeigt Gangster, Prostituierte, Außenseiter im monumentalen Format von knapp zwei Metern Höhe. Es sind Close-ups von enormer Präsenz und Power, deren Gesichter einen anstarren, in ihrer Direktheit verstören: verfaulte Zähne, Hämatome, Falten, Frauenbärte: das ungeschminkte Leben, am Rande der Gesellschaft, hautnah.
Eine prekäre Gegenwelt zur glatten Ästhetik unserer Social-Media-Kanäle, zu Gesellschaftskreisen, die Bruce Gilden für seine Arbeit nicht interessieren: „In England hab ich mal einen Mann mit total verbranntem Gesicht gefragt, ob ich ihn fotografieren darf. Und er sagte: Ja! Dass jemand so aussieht, heißt ja nicht, dass man nicht mit ihm reden kann. Der muss sich so durchs Leben schlagen.“ Die schlimmsten Kotzbrocken, so Gilden, seien „diese Berühmtheiten, die du nicht fotografieren darfst, wenn sie einen Pickel haben“.
Gildens Kamera ist keine Waffe
Bruce Gilden sucht vorsichtig das Gespräch mit den Menschen. Seine Kamera ist keine Waffe. Die Fotos machen die Porträtierten stolz – und natürlich sind sie auch große Kunst. Die Ausstellung zeigt, wie der Autodidakt Bruce Gilden sich in bald sechzig Jahren vom szenischen Motivjäger zum Porträtisten entwickelte, angelehnt an große Vorbilder wie Henri Cartier-Bresson oder den Film Noir.
Im ersten Raum sind 50 Schwarz-Weiß-Fotos zu sehen, auf denen Bruce Gilden den Strand von Coney Island, die Straßen von New York, Paris, Haiti und Japan zur Bühne macht, viele von ihnen ikonische Werke der Fotografie. Im zweiten Raum dann über zwanzig übergroße Farbfotografien seiner neueren Porträt-Serie „Faces“. Digitale Drucke.
Eine Umkehrung der Verhältnisse
Ein Perspektivwechsel, der auch mit dem Alter kam: „Ich bin 78 – und das bedeutet: Ich kann mich nicht mehr so bücken wie früher, ich habe nicht mehr diese Kraft – warum soll ich wiederholen, was ich schon gemacht habe? Du musst dich nach vorn bewegen, aber den meisten fehlt der Mut, sich zu verändern. Vor diesen Bildern habe ich nie in Farbe fotografiert.“
Die monumentalen, hyperrealistischen Farb-Porträts hängen nicht auf Augenhöhe. Der Betrachter muss zu ihnen aufschauen. Eine Umkehrung der Verhältnisse. Ein Wechselspiel zwischen Benachteiligten und Privilegierten, Niedrigem und Erhabenem: „Heute ein König, morgen ein Bettler. Ich identifiziere mich mit diesen Menschen. Aber ich habe kein Mitleid. Es sind alles Menschen – und sie existieren.“