Schauspielkunst und Struktur
Dass seine Töchter durch das tragische Ereignis ihre über Jahre gewachsenen Differenzen nicht plötzlich beilegen, wird ab der ersten Einstellung klar: Katie, die von Carrie Coon gespielte älteste Tochter, hält mit verschränkten Armen und dem Rücken zur Wand einen wütenden und minutenlangen Monolog, der sich an in diesem Moment noch unklare Adressaten richtet. Es sind ihre Schwestern, dargestellt von Elizabeth Olsen und Natasha Lyonne. Auch sie werden durch mehr oder weniger lange Monologe eingeführt und charakterisiert: Olsen ist die emotionale, Lyonne die verpeilte. Die Kameraeinstellung separiert die drei zusätzlich voneinander: Sie sitzen an einem Tisch, sind aber nicht gemeinsam im Bild.
Kein Secondscreen-Eskapismus
Es ist dieses Zusammenspiel aus vollends auf die Person konzentrierter Schauspielkunst und sorgsam durchdachter Struktur, die den Film aus dem Netflix-Portfolio herausragen lässt. „Drei Töchter“ ist kein Secondscreen-Eskapismus, sondern Aufmerksamkeit einfordernde Konfrontation mit dem Leben. Denn mit der Zeit lernt das Publikum: Die anfängliche Charakterisierung ist lediglich das Bild, das die Frauen voneinander haben – ihre wahren Persönlichkeiten entdecken sie erst in den folgenden Tagen, wenn sie sich streiten, versöhnen oder versuchen, einen Nachruf auf ihren Vater zu verfassen.
Der Vater ist es dann auch, dem der emotionale Höhepunkt des Films vorbehalten ist: Omnipräsent und doch abwesend, tritt er in den letzten Minuten ins Bild und hält – wie zu Filmbeginn seine Töchter – einen Monolog. Er handelt von der Liebe zu seinen Kindern, zu seiner Stadt und der Erkenntnis, dass man erst weiß, wie jemand war, wenn er nicht mehr da ist. Wie viel davon real und wie viel imaginiert ist, ist nebensächlich. Essenziell ist, dass am Ende aus den Töchtern Schwestern geworden sind – und man einen Film gesehen hat, der nüchtern und nuanciert zeigt, wie schmerzvoll und kathartisch individuelle Trauerarbeit sein kann.