Im Fichtelgebirge soll es noch einmal ein entspannter Familienurlaub werden. Hannah Wagner, in der 31. Schwangerschaftswoche, will mit ihrem Mann und dem kleinen Sohn die letzten ruhigen Momente zu dritt genießen, bevor der Alltag mit einem Säugling wieder losgeht. Doch an diesem Freitagmorgen beschleicht die 37-jährige Nürnbergerin ein ungutes Gefühl: Ihre ungeborene Tochter Rosa hat sich schon lange nicht mehr bewegt.
Der Moment, der alles verändert
Hannah Wagner versucht sich zu beruhigen – laut Google liegt die Wahrscheinlichkeit für Komplikationen in dieser Schwangerschaftswoche bei nur 0,01 Prozent. „Aber irgendjemand ist ja diese 0,01 Prozent“, erinnert sie sich. „Es könnte sein, dass wir das jetzt sind.“
Die bange Vorahnung bestätigt sich im Krankenhaus: Die kleine Rosa ist im Mutterleib verstorben. Bevor das Kind zur Welt kommt, ruft die Klinik einen speziellen Fotografen – einen sogenannten Sternenkind-Fotografen. Diese sind darauf spezialisiert, letzte Erinnerungen an Kinder festzuhalten, die vor, während oder kurz nach der Geburt versterben.
Erinnerungen im digitalen Raum
Wenige Wochen später entscheidet sich Hannah Wagner, ihre Geschichte auf Instagram zu teilen. „Es ist ja meine Tochter“, erklärt sie ihre Motivation. „Auch wenn sie gestorben ist, bin ich stolz darauf, dass ich eine Tochter zur Welt gebracht habe.“ Auf ihrem Profil zeigt sie nun Bilder der kleinen Rosa: winzige Hände, nicht größer als eine Fingerkuppe, Fußabdrücke in Schwarz-Weiß, ein mit Sonnenblumen und Vergissmeinnicht geschmücktes Grab.
An ihrem ersten Hochzeitstag, sechs Wochen nach der Entbindung, veröffentlicht Wagner einen besonders bewegenden Post. Drei glückliche Hochzeitsfotos, gefolgt von einem Bild, das sie und ihren Mann zeigt, wie sie ihre verstorbene Tochter in einem Weidenkörbchen betrachten. „Dieser Kontrast war mir wichtig“, sagt sie. „Gerade läuft alles super, und im nächsten Moment ist einfach alles nur noch schrecklich.“
Eine Community der Anteilnahme
Auf einer Plattform wie Instagram, die oft für ihre Oberflächlichkeit kritisiert wird, wirken solche authentischen Emotionen fast fehl am Platz. Doch für betroffene Eltern sind diese Posts wertvoll. Das bestätigt auch Lisa Malter, eine weitere Nürnbergerin, die ihre Zwillinge kurz nach der Geburt verlor. „Für viele Menschen sind die Kinder ja gar nicht real, weil sie sie nie gesehen haben. Aber für uns sind sie real. Wir waren einfach ganz kurze Zeit Mama und Papa.“
Beiden Frauen geht es nicht um Klicks oder Aufmerksamkeit. Sie wollen ein gesellschaftliches Tabu brechen und anderen Betroffenen zeigen, dass sie nicht allein sind. Ihre Beiträge unterscheiden sich deutlich von inszenierten Gefühlsausbrüchen, wie sie beispielsweise unter dem Hashtag „Crying on Main“ zu finden sind.
Hilfe auf Facebook
Aber die sozialen Medien sind auch ein Ort, an dem sich Betroffene gegenseitig unterstützen können. „Schon im Krankenhaus habe ich nach Gruppen mit Familien gesucht, denen Ähnliches widerfahren ist“, erinnert sich Hannah Wagner. Auf Facebook gibt es beispielsweise die Gruppe „Sternenkinder“, die über 25.000 Mitglieder hat. Hier wird getrauert, aber es werden auch praktische Fragen diskutiert: Wie gestaltet man eine würdevolle Beerdigung? Wie erklärt man Geschwisterkindern den Verlust? Wie geht man mit gutgemeinten, aber verletzenden Kommentaren um? Die virtuellen Selbsthilfegruppen ergänzen dabei die klassischen Angebote von Beratungsstellen und Therapeuten – und sind rund um die Uhr verfügbar, wenn die Trauer übermächtig wird.
Social Media ist auch das, was man daraus macht
Manchmal gibt es auch tröstliche Wendungen: Lisa Malter ist inzwischen zweifache „Regenbogen-Mama“. „Regenbogenkinder“ – so werden Kinder genannt, die nach einem Sternenkind gesund zur Welt kommen. Auch Hannah Wagner wurde drei Monate nach ihrem Verlust wieder schwanger und brachte ein gesundes Kind zur Welt. Die sozialen Medien zeigen sich in diesen Geschichten von einer anderen Seite: nicht als Schaufenster der Perfektion, sondern als Ort für echte Emotionen, Mitgefühl und gegenseitige Unterstützung.