„Das ist wirklich gelebte Geschichte“
Bei der Ausgrabung findet Kozlowski ein Marmeladenglas, ein Bajonett, das Mundstück einer Pfeife – und seine Erkennungsmarke. Damit kann er den Toten identifizieren. Auf der Marke steht die Stammrollennummer 1-7-3. Der Tote war Soldat 173 aus dem Volkssturm-Bataillon.
Die Geschichte dieses vermissten Menschen führt in die Endphase des Zweiten Weltkriegs. Millionen Menschen sind auf der Flucht und sehnen das Kriegsende herbei. Niemand von ihnen weiß, was morgen kommt. Ostern 1945: Die Alliierten dringen immer weiter auf deutschen Boden vor. Der Krieg geht trotzdem weiter, auch Kurt Reimer vom Volkssturm-Bataillon 8/16 wird an die Front geschickt.
Kaum Dokumente zu den letzten Kriegsmonaten
Mit der Erkennungsmarke in der Tasche geht es zum Bundesarchiv nach Berlin. Doch die Hoffnung ist schnell gedämpft, denn zu den letzten Kriegsmonaten fehlen Dokumente. Birgit Wulf, Mitarbeiterin beim Bundesarchiv, sagt gegenüber Kontrovers – die Story: „Vieles ist verbrannt, vieles wurde auch mitgenommen. Also dementsprechend haben wir leider von den Volkssturmeinheiten so gut wie gar nichts mehr.“
Sie schaut nochmal in den Akten nach – vergeblich. Soldat 173 kann dort nicht identifiziert werden. Aber Joachim Kozlowski hat bei der Ausgrabung noch etwas anderes entdeckt, das Aufschluss geben könnte. Etwas Ungewöhnliches: eine Zahnprothese. Es ist nicht allzu unwahrscheinlich, dass der Soldat schon etwas älter war. Gegen Kriegsende wurden sogar 60-Jährige noch eingezogen – Hitlers letztes Aufgebot. Kurt Reimer war bei seinem Tod 43 Jahre alt – hat er in dem Alter schon eine Prothese getragen?
Wird eine alte Zahnprothese Aufschluss geben?
Ein Mann, der das beantworten könnte, ist Andreas Haesler, Experte für historische Zahnprothesen. Er untersucht das Gebiss, findet Kunstharz, Kautschuk und Porzellan: „Typische Arbeit der Dreißiger Jahre“, sagt er. Nichts Außergewöhnliches. Haesler schaut sich auch Fotos von Kurt Reimer an, achtet besonders auf seine Mundpartie. Und gelangt zu dem Schluss: Kurt Reimer könnte der Träger dieser Prothese sein.
Mittlerweise will der Neffe endgültig Gewissheit haben. Dazu braucht es harte Fakten: eine DNA-Analyse. Die Gebeine von Soldat 173 werden in die Potsdamer Rechtsmedizin gebracht, dort nimmt Hartmut Fischer Proben von den weniger porösen Schädelknochen. Zum Abgleich nimmt er einen Abstrich in der Mundschleimhaut vom Neffen Wolf-Dietrich Reimer. Nun wird sich herausstellen, ob die Suche nach seinem Onkel 80 Jahre später ein Ende hat.
Zwei Wochen später bekommt Wolf-Dietrich Reimer das Ergebnis per Post. Am unteren Ende steht der Untersuchungsbefund: „Es kann der in Rede stehende Verwandtschaftsgrad forensisch genetisch nicht abgeleitet werden“. Soldat 173 ist nicht Kurt Reimer. Wolf-Dietrich ist sichtlich enttäuscht: „Das hatte ich nicht so erwartet. Ich hatte eher erwartet, dass da ein Verwandtschaftsgrad festgestellt werden könnte. Und das ist nicht der Fall.“ Das Schicksal seines Onkels Kurt Reimer bleibt ungeklärt. Soldat 173 wird am 30. April mit 100 weiteren Kriegstoten auf dem Waldfriedhof in Halbe bestattet.