Bürokratie als Teil der deutschen Mentalität
Christoph Knill ist Professor für empirische Theorien der Politik an der LMU München; Bürokratie ist eines seiner zentralen Forschungsfelder. Knill spricht von einer „gewissen Schizophrenie“ bei uns Deutschen: „Einerseits hassen wir die Regeln, auf der anderen Seite ist wahrscheinlich jede und jeder von uns in starkem Maße auch dran interessiert, uns auf Regeln zu berufen, sobald es um unsere eigenen Belange geht.“
Und trotzdem: Bürokratieabbau ist das Gebot der Stunde. Vergangene Woche hat die Bundesregierung das Vierte Bürokratieentlastungsgesetz auf den Weg gebracht. Es sieht unter anderem vor: Abschaffung der Meldepflicht für deutsche Bundesbürger in Hotels, kürzere Aufbewahrungsfristen – acht statt zehn Jahre – für Unternehmen, Fluglinien soll es erlaubt werden, Reisedokumente auch digital auszulesen. Ein „Konjunkturpaket zum Nulltarif“, nennt das der zuständige Minister Marco Buschmann (FDP).
„Dieser Bürokratieabbau, auch die ganze politische Diskussion darüber, das sind alles Blendgranaten. Das ist bestenfalls ein Tropfen auf dem heißen Stein, weil wir eigentlich eine Strukturreform bräuchten.“ (Christoph Knill, Politikwissenschaftler)
Was nötig wäre: Strukturreform statt neuer (Bürokratieentlastungs-)Gesetze
Auch Thomas Meuche von der Hochschule Hof sagt, es brauche eine andere Struktur der Verwaltung. Mehr Durchlässigkeit etwa zwischen den einzelnen Sachbereichen, aber auch anderes Personal. Er spricht von einer anderen Kultur in der Verwaltung, eine, „die nicht rein juristisch geprägt ist. Gute Juristinnen und Juristen sind natürlich darauf aus, Risiken zu minimieren. Wir brauchen Leute, die einfach anders denken, also einfach mal ohne Scheuklappen durchgehen und kritische Fragen stellen können. Das ist das, was fehlt.“
Was fehlt, ist aber auch Personal an sich. Gesetze, die der Bund erlässt, müssen von den Verwaltungen der Länder und Kommunen umgesetzt werden. Aber auch Länder und Kommunen sind angehalten zu sparen. Das sei dann, sagt Politikwissenschaftler Knill, in den unteren Verwaltungsbehörden der Fall. Die hätten aber ohnehin schon – auch wegen des demografischen Wandels und der damit einhergehenden Nachwuchssorgen – mit Engpässen zu kämpfen hätten, bei gleichzeitig steigender Aufgabenlast. Knill sagt: „Den Bund interessiert letztlich nicht sonderlich, wenn er neue Regeln macht, wie die Länderverwaltungen damit klarkommen.“
„Verwaltungs-Triage“ und mangelnde Digitalisierung
Die Verwaltungen könnten aber nicht alles auf einmal machen, sie müssten priorisieren, sagt Knill. Das führe zu einer „Verwaltungs-Triage“. Der Begriff Triage ist vor allem aus der Medizin bekannt: Er benennt, wenn nicht alle gleichzeitig versorgt werden können, sondern nur die schlimmsten Notfälle; der Rest muss warten.
All das führt dazu, dass Verfahren in Deutschland sehr lang dauern. Das bekommt jede und jeder zu spüren, der mit Behörden zu tun hat und mit Anliegen, die nicht digital erledigt werden können. Denn auch das ist Teil des Problems: Bei der Digitalisierung in den Behörden hinkt Deutschland hinterher. Von gut 580 Behörden-Dienstleistungen können Bürgerinnen und Bürger bundesweit nur 81 komplett online nutzen (externer Inhalt). Im internationalen Vergleich ist Deutschland damit im hinteren Bereich des Rankings.
Symbolpolitik und mangelndes Vertrauen: Gefahr für die Demokratie
Man sei in Sachen Bürokratie an einem Kipp-Punkt angelangt, sagt Christoph Knill. Gehe es so weiter wie bisher, „dann landen wir an einem Punkt, wo das System noch viel größere Probleme bekommt, als wir sie aktuell haben.“ Eine Folge wäre mehr Symbolpolitik, sagt Knill. Politik würde immer unglaubwürdiger, weil die Maßnahmen, die verabschiedet würden, nicht mehr richtig angewendet werden könnten. Das stelle letztendlich die Legitimation von Demokratien infrage.
Thomas Meuche skizziert das ähnlich:
„Wenn die Bürgerinnen und Bürger den Eindruck haben, dass der Staat nicht mehr handlungsfähig ist – und das passiert jetzt immer mehr, weil Verfahren zu lang dauern, weil keine Entscheidungen getroffen werden – dann ist unsere Demokratie gefährdet.“ Thomas Meuche, Verwaltungswissenschaftler
Dass wir ohne Bürokratie ins Chaos stürzten – diese Gefahr sieht Sabine Kuhlmann vom Normenkontrollrat für Deutschland nur als „abstrakte These“ – vor allem, wenn man etwa in Richtung Entwicklungsländer blicke: „Da würde ich schon sagen, wenn da nicht eine funktionierende Bürokratie ist, dann landet man im Chaos und hat man Korruption, dann hat man keine funktionierende Verwaltung und so weiter. Dann hat man wirklich Willkür. In Deutschland sehe ich das nicht.“
Christoph Knill betont, dass nicht alles an Bürokratie schlecht sei. Als Beispiel nennt er umweltpolitische Regeln, die es in den 1950er Jahren so noch nicht gegeben habe: „Wir haben durch diese Regeln saubere Flüsse, wir haben eine bessere Luftqualität. Wir haben weniger Smog in den Städten und so weiter und so fort. Unser Leben ist in vielerlei Hinsicht auch besser geworden.“