💬 „Dein Argument“ greift Euren Input auf: Kommentare aus der BR24-Community sind Anlass für diesen Beitrag. 💬
Die Wander-App Komoot ist verkauft und BR24-User diskutieren die Vor- und Nachteile GPS-gestützter Navigation. BR24-User „GegenHetzt“ schreibt, er könne dank App auch abseitige Routen wählen, weil er sich sicher sein könne, dass das Navi ihn jederzeit wieder auf Kurs bringe. Andere, wie Nutzer „RIAS“ vermuten, durch derartige Apps verlerne die Menschheit, sich ohne Hilfsmittel zu orientieren. Was ist dran an der These, Navis würden uns dümmer machen?
25 Jahre lang war Thomas Brandt Chef der neurologischen Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität München in Großhadern. Seit mehr als 50 Jahren forscht und publiziert der Neurologe zur Orientierung des Menschen im Raum. Er sagt: Der für die Orientierung in Gehirn zuständige Hippocampus funktioniere wie ein Muskel. Werde der nicht trainiert, gehe es mit der Leistung bergab.
Brandt verweist auf ein Experiment: Mittels Kernspintomografie sei bereits vor 20 Jahren das Volumen des Hippocampus von Londoner Bus- und Taxifahrern verglichen worden. Der Hippocampus von Taxifahrern hätte dabei ein wesentlich größeres Volumen aufgezeigt, da er täglich trainiert worden sei, unterschiedlichste Plätze in der Stadt zu finden. Busfahrer hingegen legten oft die gleiche Strecke zurück. „Taxifahrer haben ein Modell der Stadt im Gehirn“, sagt Brandt – und dieses könne man trainieren.
Bei wiederholten Fahrten einfach mal Navi ausschalten
Brandt rät dazu, Apps und Navis bei erstmaligen Fahrten zu neuen Zielen zu verwenden, bei Wiederholungen aber auf den Orientierungssinn zu vertrauen und den Weg selbst zu finden. Andernfalls sei der Mensch dabei, die vermutlich noch aus der Zeit der Jäger und Sammler stammende, „fantastische Eigenschaft“ zu verlieren, immer ein Modell der Umgebung mit sich zu führen.
Schon heute fänden Menschen ihr an fremden Plätzen abgestelltes Auto ohne Handy nicht mehr, warnt Brandt. Um die Orientierungsfähigkeit zu überprüfen, rät er zu einem Selbstexperiment: Die Menschen sollten sich immer wieder an verschiedenen Stellen im Alltag fragen, in welcher Richtung sich wichtige Landmarken, etwa der Hauptbahnhof, befinden.
„Mentale Karte“ im Gehirn ist in Gefahr
Auch Stefan Münzer ist Experte auf dem Gebiet der Orientierungsforschung. Der Professor für Bildungspsychologie an der Universität Mannheim hat bereits in zahlreichen Fachzeitschriften über die psychologischen und soziologischen Folgen der GPS-Navigation referiert. Auch Münzer sieht die „mentale Karte“, wie er sie nennt, in Gefahr.
Er sagt: Bevor es Navigationssysteme gab, war man gezwungen, sich anhand von Straßenkarten zu orientieren. Diese bilden die Umgebung allozentrisch ab, stellen also räumliche Informationen unabhängig vom Standort des Benutzers dar. Der musste die nach Norden ausgerichtete Karte zunächst mit der eigenen Position und Blickrichtung vergleichen, um sie korrekt zu lesen. Das war zwar mental aufwändig, aber man gewann einen guten Überblick über die Umgebung.
„Orientierung ist mehr als nur der Weg“
Heutige Navis zeigten zudem nur einen sehr engen Ausschnitt der Umgebung, oft nur bis zur nächsten Abbiegung. „Orientierung ist aber mehr als nur der Weg“, sagt Münzer. „Orientierung ist, dass ich auch weiß, wo wichtige Orte sind, die ich gerade nicht sehen kann und wie ich selbst dazu positioniert bin.“ Fehlt diese Orientierung, gehe damit ein Gefühl von Angst einher. Viele Menschen fühlten sich unwohl, wenn sie ihr Handy nicht dabeihätten. Gleichzeitig sei ihnen der Grund nicht bewusst. In Umfragen würden Menschen ihre Fähigkeit, sich orientieren zu können, noch hoch einschätzen. Womöglich ein Irrglaube, denn: „Viele Leute testen es gar nicht mehr.“
Was Navis fĂĽr wichtig halten, bleibt unklar
Die Prognose des Psychologen: „In Zukunft werden wir alle verlernen, uns zu orientieren, wenn wir nur noch am Handy kleben.“ Mit der Gefahr, dass der Mensch seine Autonomie verliert. „Das Gerät kann mich auf einen Umweg schicken, nur weil ich an einem bestimmten Laden vorbei soll“, sagt Münzer. Schon heute zeige Google Maps viele Läden an und lasse andere Dinge, die wichtiger für die Orientierung sein könnten, unerwähnt. „Was da für wichtig gehalten wird, ist für uns intransparent.“
Der Tipp des Psychologen: Das Handy öfter mal zur Seite legen und nicht den gleichen Weg zurückzulegen, den man gekommen ist. Andernfalls zeichnen sowohl Brandt als auch Münzer ein düsteres Szenario: Würden GPS-Signale einmal gestört oder abgeschaltet, „stehen wir relativ dumm da“.