Der Ackerschmalwand und der Vogelmiere können eisige Temperaturen nichts anhaben. Auch als junge Pflänzchen kommen sie durch den Winter. Die Gemeine Melde und der Hederich überleben den Winter dagegen nur als Samen. Sie wären wahrscheinlich schon ausgestorben, wenn sie bereits bei warmem Wetter im Herbst oder im Spätsommer keimen würden.
Unkrautsuche auf dem Dinkelacker
Annette Otte ist entzückt: „Ach das ist schön!“ Die emeritierte Professorin für Landschaftsökologie der Justus-Liebig-Universität Gießen steht auf einem Dinkelacker im Landkreis Neu-Ulm und freut sich über die vielen Unkrautarten. Manche Pflänzchen haben gerade erst zwei Blätter – Annette Otte erkennt trotzdem, ob es sich beispielsweise um die Echte oder die Geruchlose Kamille handelt. In ihrer Hand hält sie ein kleines Ackerschmalwandpflänzchen und ein Hungerblümchen. „Das sind also ganz charakteristische Kältekeimer, das heißt, die keimen bei Bodentemperaturen von 3 Grad plus vielleicht bis so 15 Grad.“ Obwohl es zirka 30 verschiedene Unkrautarten auf dem Bioacker gibt – ein richtiges Frühlingsunkraut, also eines, das erst bei richtig warmen Temperaturen keimt, ist noch nicht dabei.
An den Unkräutern sollt Ihr die Kulturen erkennen!
Weitere Kältekeimer auf dem Acker sind zum Beispiel: die Echte Kamille, der Klatschmohn, Klettenlabkraut, Ackerfrauenmantel, Ackerröte, Vogelmiere, der efeublättrige Ehrenpreis, der persische Ehrenpreis und so weiter. Sie haben zum Teil schon im Herbst gekeimt, zum Teil erst vor ein paar Tagen. Die Frühjahrsunkräuter keimen erst später, wenn es wärmer wird, und dann vor allem in den Sommerkulturen, wie Hafer, Mais und Kartoffeln, wo es noch freie Flächen gibt. Zu den Frühjahrsunkräutern zählen: Melde, Hirse, Knöterich und zum Beispiel Hohlzahnarten.
Landschaftsökologin Annette Otte: „Daraus erschließt sich eine ganz unterschiedliche Vegetation für die Äcker des Wintergetreides und den Äckern des Sommergetreides. Weil die Sommerkulturen, die werden ab Mitte April ausgesät und dann sind die Bodentemperaturen deutlich wärmer.“ Die Wärmekeimer legen erst bei Bodentemperaturen von 15 Grad aufwärts los – wenn es feucht genug ist, ohne Wasser keimt natürlich gar nichts.
Überlebensstrategie Keimruhe
Wie merken Hirse, Melde und zum Beispiel der Flughafer, also die Ackerunkräuter, die nicht winterhart sind, dass es Frühjahr wird? Allein an den Temperaturen? Das kann nicht sein. Denn im Spätsommer und Herbst ist es manchmal auch richtig warm. „Es wäre jetzt ja fatal, wenn dieser Samen im Herbst auskeimt und die Pflanze dann im Winter erfriert,“ sagt Andreas Schaller, Professor für Pflanzenphysiologie an der Universität Hohenheim. Ein nicht winterhartes Unkraut „muss also sozusagen warten, bis der Winter vorbei ist“. Warten heißt für Samen: In ihnen ist eine Keimruhe quasi programmiert.
Nicht die Wärme, sondern die Kälte löst die Keimung aus
Diese Keimruhe wird erst gebrochen, wenn die Samen der Sommerunkräuter den Winter hinter sich haben. „Der Samen registriert die lange Kälteperiode des Winters, es sind mehrere Wochen von vielleicht Temperaturen zwischen null und fünf Grad erforderlich, um dieses Ruhestadium zu überwinden.“ Es ist also nicht so, wie man vielleicht meinen könnte, dass die Kälte den Samen am Keimen hindert. Sondern die Kälte stoppt die Keimruhe und regt den Austrieb an, „so dass der Samen dann im Frühjahr in der Lage ist, zu keimen“, so Professor Andreas Schaller von der Uni Hohenheim.
Wo es keinen Winter gibt: Auch die Tageslänge kann die Keimruhe stoppen
Im Pflanzensamen passiert ein Wechselspiel zwischen zwei Hormonen: Zwischen Gibberillinsäure, dem Pflanzenhormon, das die Keimung fördert, und Abscisinsäure, dem Hormon, das die Keimruhe verursacht. Eine Keimruhe haben so gut wie alle Pflanzen, je nach Lebensbedingungen und Klimazone unterscheiden sich jedoch die Einflüsse, die das Ruhestadium beenden. „Dieses Brechen der Ruhe durch eine lange Kälteperiode, das macht natürlich nur Sinn in unseren Breiten, wo es eine solche lange Kälteperiode gibt. Wenn Sie vielleicht an Pflanzen in tropischen Regionen denken, da gibt es die nicht“, sagt Pflanzenphysiologe Andreas Schaller. Da werde die Keimruhe dann zum Beispiel durch die Tageslänge reguliert.
Ackervergissmeinnicht ist ein „Immerkeimer“
Arten wie der Saatmohn, das Ackervergissmeinnicht oder das Sandkraut keimen bei kalten und warmen Temperaturen. Fast alle Ackerunkräuter brauchen in der Regel zusätzlich auch einen Lichtreiz zum Keimen. Das heißt, wenn sie unter der Erde liegen, passiert meist nichts. Dazu kommt: Die Pflanzen können sich im Laufe der Jahre zumindest teilweise auch an äußere Umstände anpassen. Ein Kältekeimer muss also nicht bis in alle Ewigkeit ein Kältekeimer bleiben.
Viele Unkrautarten auf dem Acker: Eigentlich ein gutes Zeichen
Der Einsatz von Unkrautbekämpfungsmitteln hat die Unkräuter in den letzten Jahrzehnten stark dezimiert. Dabei sind viele verschiedene Unkrautarten auf einem Acker nicht nur für die Biodiversität gut, sondern auch für den Landwirt, denn sie halten sich gegenseitig in Schach.
Auch die vielfältige Verunkrautung auf dem Dinkelacker im Landkreis Neu-Ulm, die den Boden fast ganz bedeckt, habe keinen großen Einfluss auf den Ertrag: „Es ist jetzt nichts, wo ein Landwirt jetzt graue Haare kriegen muss.“ Große Ertragseinbußen kommen meist von einzelnen besonders durchsetzungsfähigen Unkrautarten. Die Landschaftsökologin Annette Otte erinnert sich, dass man auf lehmigen Äckern vor 40, 50 Jahren auf einem Quadratmeter Boden 7.500 bis 10.000 Samen gefunden hat. Und heute? „Wir haben das in der Wetterau im Rahmen eines großen Forschungsvorhabens gemacht, da können Sie Pech haben und finden im Zentrum nichts mehr. Nicht einen einzigen Unkrautsamen haben wir finden können.“
Äcker mit 30 verschiedenen Unkrautarten haben inzwischen Seltenheitswert, so Professorin Annette Otte. Oft habe sie mit Studierenden auf Äckern Kaltkeimer bestimmen wollen und nur noch Taubnessel und Vogelmiere gefunden.