Wenn sich jemand mit „Weltschmerz“ auskennt, dann ja wohl wir Deutsche. Insofern verwundert es etwas, dass der Anfang Oktober verstorbene französische Autor Xavier Durringer mit dem Thema offenbar ebenfalls bestens vertraut war. In seinem Stück „Ganze Tage, ganze Nächte“ geht es um nichts anderes als die niederschmetternde Traurigkeit, die sich in der banalen Frage zusammenfassen lässt: Warum sollten wir mit irgendetwas anfangen, wenn wir eines Tages sowieso alles beenden müssen?
Klar, dabei geht es letztlich um den Sinn des Lebens in einer Welt, in der alles endlich und vergänglich ist. Daran verzweifelten bekanntlich schon die deutschen Romantiker, die sich das Leben als triste Winterreise vorstellten und jedwede Erwerbsarbeit öde und inhaltsleer fanden. Wer es sich leisten konnte, flüchtete sich lieber in eine luxuriöse Einsamkeit und besang von dort aus die Nacht, den Wald und die Liebe, die ja oft wirklich nicht länger hält als die Zahnbürste.
Jugend fürchtet „Kontrollverlust“
Klingt alles furchtbar klassisch, scheint jedoch das Lebensgefühl der heutigen Jugend zu sein, der viel kritisierten „Generation Z“, die die Jahrgänge 1995 bis 2010 umfasst. So ist es jedenfalls dem Programmheft der Theaterakademie August Everding zu entnehmen. Dort wird auch die aktuelle Shell-Jugendstudie zitiert [externer Link], wonach ungefähr die Hälfte der jungen Menschen pessimistisch in die Zukunft schaut und persönlich einen „Kontrollverlust“ befürchtet.
Gut, die Romantik war was für Reiche und Gebildete, Xavier Durringer zeigt in seinem Stück aus dem Jahr 1996 dagegen Arme und Ungebildete aus den Pariser Vororten. Sie treffen sich auf einem Bahnsteig, von dem kein Zug mehr abfährt und hängen dort ihren Gedanken nach, die allesamt um Geld und Geschlechtsverkehr kreisen. Jochen Schölch inszenierte das mit sehr feiner Poesie und, wenn das Paradox erlaubt ist, traurigem Humor.
Sexpuppe aus dem Müll
Neun junge Menschen warten neben dem Fahrkartenautomaten buchstäblich auf das Nichts: „Mir ist alles egal was passiert, in der Welt und so.“ Ein eifersüchtiges Paar, zwei Kleinkriminelle, die ausgerechnet ein sperriges Klavier durch die Gegend schleppen, einige frustrierte Singles, die sich beim Tanzen langweilen und ein müder Schaffner, der im Müll eine Sexpuppe aufstöbert und mit ihr auf der Wartebank Händchen hält. Bilder von beklemmender Komik, und weil der Bahnsteig, den Ausstatter Hannes Neumaier entwarf, sehr realistisch und sehr lang ist, darf sich jeder an seine eigenen Erfahrungen mit der Deutschen Bahn erinnert fühlen. Die Verspätungen werden immer länger, die Wagenreihung immer obskurer, bis der Reinigungsroboter vorbeirollt und signalisiert, dass wirklich jede Hoffnung vergeblich ist.
Da hilft kein Singen, da hilft keine Party und Blumen schon gar nicht: Gegen Weltschmerz gibt es keine Medikamente, allenfalls Zuversicht, aber die empfindet die Generation Z offenkundig als furchtbar anstrengend. In einem Punkt ist Xavier Durringer pessimistischer als die deutschen Romantiker. Die waren der Meinung, dass es nicht auf die äußeren, sondern auf die inneren Verhältnisse ankommt. Mit anderen Worten: Wer die Welt nicht ändern will und kann, der ändert einfach seinen Blickwinkel, also seine Weltanschauung. Doch daraus schöpfen die Jugendlichen hier keinen Trost. Ihr diesbezüglicher Eifer ist völlig erloschen, wofür die defekten Feuerzeuge stehen, mit denen sie vergeblich ihre Zigaretten anzünden wollen.
Weltschmerz hat Konjunktur
Ein sehr melancholischer, aber völlig unsentimentaler Abend in der Theaterakademie August Everding mit neun wunderbar lakonischen Schauspielstudierenden, die in diesen Rollen in jeder Lebenslage immer nur Monologe sprechen. Die Menschen, die sich hier mit dem Dasein abquälen, interessieren sich nur für sich, und das Schlimmste daran: Sie finden sich selbst entsetzlich langweilig. Umso spannender und unterhaltsamer, dieser gesellschaftlichen Bestandsaufnahme zuzuschauen. Muss jeder selbst entscheiden, ob Xavier Durringer mit seinem Stück die Gegenwart der Generation Z treffend charakterisiert. Der Weltschmerz hat jedenfalls Konjunktur: Er ist vielleicht sogar Deutschlands gefragtester Exportartikel.
Wieder am 25., 28. und 29. November 2025 im Akademietheater der Theaterakademie August Everding, München

