đĄ Peter Jungblut beobachtet fĂŒr BR24 Kultur die Debatten hinter den Meldungen rund um den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Dazu verfolgt er russische Medien, Telegram-KanĂ€le und Social Media, und wertet die EinschĂ€tzungen / Stimmen dort dazu feuilletonistisch aus und ordnet ein. So zeigen wir, wie Millionen Menschen innerhalb der russischsprachigen Welt ĂŒber die Ereignisse diskutieren.
In die Sterne sollte Wladimir Putin besser nicht schauen: Russische Beobachter verwiesen ironisch darauf, dass am 29. Januar kommenden Jahres nach dem chinesischen Kalender wieder einmal das Jahr der Schlange beginnt und Russland damit im 20. Jahrhundert keine guten Erfahrungen gemacht habe: In der Tat verblĂŒffend, dass 1917 (Oktoberrevolution), 1941 (deutscher Ăberfall auf die Sowjetunion), 1953 (Tod Stalins) und 1989 (Zusammenbruch des Ostblocks) jeweils im Zeichen der Schlange standen.
âRegime hat einen Selbsterhaltungstriebâ
Nachdem die USA der Ukraine offenkundig erlauben wollen, Raketen mit einer Reichweite von bis zu 300 Kilometern gegen Russland einzusetzen, fragen sich viele russische Kolumnisten, was das psychologisch und politisch fĂŒr das Kreml-Regime bedeutet.
âDie Angst wird zunehmen. Darauf mĂŒssen die Behörden reagierenâ, so einer der gröĂten Polit-Blogger mit 425.000 Fans: âFolglich muss das politische Regime die Schrauben noch weiter anziehen, âdie öffentliche Meinung imprĂ€gnierenâ und fĂŒr maximale LoyalitĂ€t unter Beamten und russischen Eliten sorgen. Die noch stĂ€rkere Militarisierung der Ăffentlichkeit ist wahrscheinlich die einzige Option, denn weiterhin NormalitĂ€t vorzugaukeln kann bei noch gröĂeren Raketen-Reichweiten nur noch als schlechter Scherz verstanden werden.â
Ăhnlich sieht es der viel zitierte Politologe Anatoli Nesmijan. Putin werde sich auf weiteren Druck des Westens weniger nach auĂen als nach innen orientieren mĂŒssen: âDas Regime hat einen Selbsterhaltungstrieb. Es hat schlicht keine Möglichkeit, seinen Bankrott einzugestehen, also wird es gezwungen sein, alles zu tun, um an der Macht zu bleiben. Die einzige wirkliche rote Linie ist das persönliche physische Ăberleben der maĂgeblichen Kreise. Erst wenn diese Grenze ĂŒberschritten wird, werden in Russland die Voraussetzungen fĂŒr eine neue Februar-Revolution geschaffen. Aber nicht vorher.â
âLimit noch nicht ĂŒberschrittenâ
Mit dem Sterben hĂ€tten es Putin und seine Leute nicht sonderlich eilig, weshalb sie auch die Front mieden: âWenn der Kreml nicht auf Drohungen und den Einsatz westlicher Kurz- und Mittelstreckenraketen auf russischem Territorium reagieren kann (und hier gibt es auĂer Atomangriffen tatsĂ€chlich nichts, womit er reagieren könnte), wird er gezwungen sein, den Terror innerhalb des Landes zu verschĂ€rfen.â
TatsĂ€chlich fiel auch dem Propagandisten Sergei Markow auf, dass Putin anders als der ukrainische PrĂ€sident Selenskyj auf riskante Frontbesuche verzichtet, aber auch Stalin habe die Truppe ja nicht selbst in Augenschein genommen. MilitĂ€rblogger Alexander Sladkow warnte seine Landsleute davor, so aufgeregt wie âMĂ€use in der Scheuneâ herumzurennen und vor lauter NervositĂ€t in Peking und Pjöngjang anzurufen, um dort seelischen Beistand zu erbeten: âWir sollten in aller Ruhe weiterarbeiten.â
âDann geht der Tanz losâ
Die Sprecherin des russischen AuĂenministeriums, Maria Sacharowa, belieĂ es beim wenig fasslichen Kommentar, Russland werde âangemessen und konkretâ auf eventuelle Angriffe mit weiterreichenden Raketen aus US-Produktion antworten. Das werde den Konflikt âradikal verĂ€ndernâ.
Einer der Telegram-Kommentatoren versuchte die Russen mit dem Argument zu beruhigen, US-Raketen seien militĂ€risch und wirtschaftlich weniger bedrohlich als psychologisch: âDer Westen möchte der russischen FĂŒhrung signalisieren: Schauen Sie, wir sind bereit fĂŒr eine Eskalation. Wir werden den Ukrainern das und das erlauben und dann geht der Tanz los. Das ist so eine Horrorgeschichte, wie in der Anekdote ĂŒber ein kleines MĂ€dchen, das erst seine Mama nach schlimmen Wörtern fragt und dann lauthals ruft: Oma, hab Angst vor mir! Ich bin eine â Hure.â
âLustige BegleitumstĂ€ndeâ
Der systemnahe Politologe Dmitri Michailitschenko empfiehlt dem Kreml, anders als mancher Ultrapatriot, kĂŒhlen Kopf zu bewahren und hofft fĂŒr diesen Fall auf internationale Aufmunterung: âVielleicht sollte die Reaktion eine sein, die die Konfrontation ins Leere laufen lĂ€sst und nicht verstĂ€rkt. Wir brauchen asymmetrische und zielgerichtetere Antworten. DarĂŒber hinaus wollen sowohl der globale SĂŒden als auch China keine Eskalation, und hier kann Russland erhebliche diplomatische Dividenden erzielen.â
MilitĂ€rblogger Oleg Zarew richtete das Augenmerk der Russen derweil auf vermeintlich wichtigere Probleme und âlustige BegleitumstĂ€ndeâ: In der Armee mangele es an kleinen SchuhgröĂen â wegen der eingesetzten Nordkoreaner.