Wenn in der Kunst gelitten wird, dann in Schönheit und mit Pathos: Bildhauer und Künstlerinnen vergangener Jahrhunderte liebten den verwundeten Kämpfer, den sterbenden Krieger. Vermeintlich wenig erzählten sie von dem, womit die Natur den gewöhnlichen Sterblichen so plagt. Krieg ja, Krankheit nein.
Und trotzdem: Sobald man sich mit einem Mediziner auf Chefvisite begibt, verwandelt sich die Alte Pinakothek in München in ein Hospital. Plötzlich sieht man überall Patienten. Zum Beispiel auf Hans Holbeins Sebastiansaltar: Der rechte Flügel zeigt die heilige Elisabeth mit drei Bettlern. Aus Forschungssicht ist das Bild interessant, weil es Hinweise zu Auftreten und Verschwinden einer gefürchteten Krankheit geben kann.
Von Lepra bis zur Darmerkrankung
Eine der Figuren habe sehr typische Lepra-Zeichen im Gesicht, erklärt der Münchner Pathologe Andreas Nerlich, bei einer anderen seien diese auf dem Arm zu erkennen. Entstanden ist der Sebastiansaltar im Jahr 1516. Damals war Lepra ein verbreitetes Krankheitsbild, das durch noch nicht bekannte Faktoren in unseren Breitengraden nach und nach verschwunden ist. „Ob es klimatische Faktoren sind, ob es Faktoren sind im Erreger, der vielleicht mutiert ist und seine Infektiosität eingebüßt hat, ist im Moment noch nicht klar“, so Nerlich.
Weniger eindeutig ist der Befund auf Tizians Porträt von Kaiser Karl V. Seine erblich bedingte Kieferfehlstellung verursachte Sprachprobleme, er konnte schlecht kauen und litt infolgedessen an Darmerkrankungen. Nicht alle Maler haben gewagt, das allzu deutlich zu skizzieren.
Mehr als ein schräges Hobby
Man könnte vermuten, das Aufspüren solch menschlicher Defekte in Galerien sei nur das schräge Hobby eines pensionierten Chefarztes. Aber Andreas Nerlich, Professor der Pathologie, hat als begeisterter Paläopathologe an tausenden Mumien und Skeletten die Evolution von Krankheiten untersucht. Von da war es nur ein kleiner Schritt zur Ikonodiagnostik, der Erforschung von Darstellungen von Krankheitsbildern in der Kunst. Eine Disziplin mit wissenschaftlichem Anspruch, die Nerlich zusammen mit einer internationalen Gruppe von Medizinern, Genetikern und Kunsthistorikern ausübt.
Das Ziel sei laut Nerlich, einen neuen Blick auf die Geschichte von Krankheit und Medizin zu erhalten. „Und wir ergänzen damit Funde, die es zum Beispiel aus der Biologie gibt, von Skeletten, von Mumien, von biologisch-medizinischen Untersuchungen an tatsächlichen Erkrankungen.“