Für die Menschen in Bayern war es ein Umbruch, als die Amerikaner bei Kriegsende einmarschierten und die Städte und Dörfer besetzten. Sie vertrieben aber nicht nur Bewohner für eine Weile aus ihren Häusern und ließen Wertgegenstände und Andenken mitgehen, sondern sorgten auch für Recht und Ordnung und für die die Bestrafung der deutschen Kriegsverbrecher. Die Autorin Carolin Otto hat diese bayerische Epoche um den Mai 1945 herum intensiv recherchiert und daraus in ihrem Roman „Berchtesgaden“ ein großes Sittengemälde gemacht.
Als Schauplatz wählte sie einen symbolträchtigen Ort aus: In Berchtesgaden hat Hitler sich mit seiner Entourage zum Leben und Regieren niedergelassen, wofür man einerseits Grundstücke der Ansässigen enteignet hatte, wo die Landbevölkerung aber auch profitiert hat. Denn Hitler machte Berchtesgaden und den Obersalzberg als touristisches Ziel bekannt. Und: Hier kamen die Alliierten bei ihrem Einmarsch als Letztes an.
Viele Blickwinkel auf die Wendezeit 1945 in Bayern
Beim Lesen erfahren wir die amerikanische Besatzung in Berchtesgaden aus mehreren Perspektiven: Da sind zunächst die amerikanischen GIs, die erst die Grauen der befreiten Konzentrationslager sehen müssen und dann bei der Entnazifizierung plötzlich nur noch Regimegegner und unpolitische Menschen antreffen. Unter diesen amerikanischen Soldaten ist zum einen der jüdische Münchner Frank, der vor dem Antisemitismus in Deutschland in die USA geflohen war und nun als GI sein Bayern wieder sieht. Und zum anderen der Afroamerikaner Sam, der in der Army Diskriminierung erfährt und dennoch im Nachkriegsdeutschland mehr Rechte hat als daheim in den Staaten. Sam verliebt sich in die eigentliche Hauptfigur, die junge Sophie.
Sophie versucht, die Schuld ihres Landes zu begreifen und zu verdauen. Ihr Bruder Max ist nämlich nicht nur ein sympathischer Weiberheld in Lederhosen, sondern war an der Ostfront als SS-Mann auch an grauenhaften Kriegsverbrechen beteiligt. Folgerichtig kommt sie in Gewissenskonflikte und verhält sich auch selbst nicht immer ganz astrein, wenn sie zum Beispiel in den Villen der Nazigrößen rund um Hitlers Berghof am Obersalzberg zum Plündern geht, nachdem die Besitzer sich aus dem Staub gemacht haben.
Sex mit Amis: Deutsche Frauen galten als „sehr, sehr zugänglich“
In dieser verwirrenden und gefährlichen Zeit kommen sich Sam und Sophie immer näher, obwohl den amerikanischen Soldaten das Anbandeln mit deutschen „Froilains“ eigentlich verboten war. „Die deutschen Frauen galten als sehr, sehr zugänglich“, so die Recherche von Carolin Otto. An die Verbote der Vorgesetzten haben sich viele der jungen Soldaten deshalb nicht gehalten und intensiv mit den Madln poussiert.
Bei der Lektüre erfahren wir viel vom Alltag der kleinen Leute – sowohl unter der NS-Diktatur als auch unter der amerikanischen Besatzung: Da begegnet ein ehedem zum Tode verurteilter Regimegegner seinem Denunzianten, Flüchtlinge aus Ostpreußen suchen nach einer neuen Heimat, und die Ansässigen müssen zusammenrücken, in Bergstollen finden die Amerikaner jede Menge hochkarätige Raubkunst, eine KZ-Überlebende erzählt, wie sie auf Kosten anderer Häftlinge überlebt hat, und wir sehen, wie die Amerikaner die Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozesse vorbereiten.
Identitätssuche und Urgrund deutscher Demokratie
Der Roman „Berchtesgaden“ ergründet, wie die Menschen nach der militärischen, zivilisatorischen und moralischen Katastrophe nach einer neuen Identität suchten, und beleuchtet damit den historischen Übergang von der Diktatur zu einem Neuanfang, spricht noch einmal die politischen, menschenrechtlichen und individuellen Verbrechen an, schaut voraus auf den sich abzeichnenden Rechtsstaat und nimmt damit den Urgrund der deutschen Demokratie in den Blick. Gerade heute schadet es nicht, sich darauf zu besinnen. Eine unterhaltsame und hautnahe Geschichtsstunde also.
Carolin Otto: „Berchtesgaden“ (Bastei Lübbe) (externer Link)