Könnte glatt ein Ausschnitt aus einem UFA-Film aus den dreißiger oder vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts sein: Das Budapester Operettentheater macht mit Emmerich Kálmáns „Csárdásfürstin“ und Franz Lehárs „Land des Lächelns“ gerade zwei Wochen im Deutschen Theater München Station, und die Inszenierungen haben nicht den Ehrgeiz, die Stücke irgendwie zu aktualisieren oder gar das Publikum zu irritieren. Alles andere wäre in Victor Orbáns Ungarn, wo „traditionelle“ Werte hochgehalten und Gay Pride-Demonstrationen verboten werden, auch verwunderlich.
Museale Auffassung von Operette
Also dürfen die Herren im Frack tänzeln wie einst Johannes Heesters (1903–2011) und den stets „willigen“ Soubretten hinterhersteigen, auf dass die Nacht verkürzt werde: „Ganz ohne Weiber geht die Chose nicht.“ Dafür gab es vom überwiegend älteren, allerdings nicht sehr zahlreichen Publikum höflichen Beifall. Diese eher museale Auffassung von Operette scheint demnach immer noch Fans zu haben, wenn auch bei weitem nicht mehr so viele wie in den Siebzigern, als das noch mehrheitsfähige TV-Unterhaltung war.
Das Deutsche Theater, wo sonst überwiegend Musicals gegeben werden (demnächst „Der Kleine Horrorladen“), zielt im Hochsommer offenbar ein paar Tage lang auf Touristen und Traditionalisten. Das Bühnenbild der „Csárdásfürstin“ war auch durchaus ansehnlich, die ungarischen Solisten gut gelaunt und motiviert, obwohl manche mit dem Deutschen hörbar Schwierigkeiten hatten.
„Distanzierung von Schuld der NS-Zeit“
Dennoch sind derart altertümliche Tournee-Produktionen nicht bloße Retro-Folklore, sondern erinnern schmerzlich daran, dass die Kunstform Operette hierzulande erst nach dem Zweiten Weltkrieg derart „verhunzt“ und verniedlicht wurde, wie der Berliner Operetten-Experte und Buch-Autor Kevin Clarke meint: „Der große Umschwung zur keuschen Operette, wie wir sie vielerorts kennen, der passiert erst nach 1945, als eine Form der Distanzierung von der Dekadenz und natürlich der Schuld der NS-Zeit, und das ist dann die Operette, wo alles Politische herausgenommen ist, wo sie zu einer Art ’safe space‘ wird, wo man nicht konfrontiert wird mit irgendwelchen Dingen, die problematisch sind.“
Aus Sicht der Nachkriegsgeneration sei das verständlich gewesen, argumentiert der gebürtige Berliner Clark: „Die waren traumatisiert, Deutschland lag in Ruinen, viele Tote, viele Vergewaltigungen, viel Elend, damals ist man in die Operette gegangen, um das alles zu vergessen. Die Heimatfilme sind dafür ein Beispiel, mit ihren intakten Landschaften, etwa im Schwarzwald oder im Salzkammergut oder wo auch immer.“
„Wortwahl ist beklemmend“
Die Nazis hätten viele jüdische Macher der modernen, frechen, satirischen, vom amerikanischen Jazz inspirierten Operetten der Weimarer Republik ins Exil getrieben, gequält oder ermordet und sich stattdessen am Musiktheater des 19. Jahrhunderts orientiert. Was der Publizist beklagt: Diese rückwärtsgewandte, anti-moderne Auffassung von Unterhaltung werde durch bedenkenlose Formulierungen (und Inszenierungen) bis heute unterschwellig weitergepflegt.
„Für die Nazis war der Höhepunkt der Operette der Wiener Walzer von Johann Strauss. Der wurde als der Inbegriff des deutschen Tanzes bezeichnet“, so Kevin Clarke: „Das wurde dann die ‚goldene‘ Zeit der Operette genannt, gemeint war damit die ‚arische‘ Operette in Abgrenzung zur ‚jüdischen‘ oder ‚entarteten‘. Nach 1945 wollte das dann niemand mehr sagen, dann hat man stattdessen vom ‚goldenen‘ und ’silbernen‘ Operettenzeitalter gesprochen, wobei ‚golden‘ nichts anderes meinte, als das, was die Nazis so deklariert hatten, nämlich die Operette des 19. Jahrhunderts.“
Es sei „schon beklemmend zu sehen, dass diese Wortwahl bis heute überall weiterbenutzt“ werde, ohne dass sich die Leute darüber im Klaren seien, dass das eigentlich eine antisemitische Klassifizierung sei.
Cowboy-Operette wurde abgelehnt
Übrigens versuchte Emmerich Kálmán, der Komponist der „Csárdásfürstin“, nach dem Krieg mit „Arizona Lady“ in Deutschland eine Cowboy-Operette zu vermarkten, vergeblich: „Die Intendanten haben das alle abgelehnt und gesagt, das ist zu amerikanisch, zu broadwaymäßig, das will man nicht von Ihnen. Diese Idee von Heimat-und-Folklore-Operette blockierte damals schon die Karriere von vielen Leuten“, so Clarke. „Arizona Lady“ wurde am 1. Januar 1954 uraufgeführt – im Radio, beim BR in München.
Kevin Clarke: „Glitter and be Gay. Die authentische Operette und ihre schwulen Verehrer“, Berlin 2025