700 Darsteller waren aus Sicht der Film-Crew von „Das Leben geht weiter“ zu wenig. Also forderten die Verantwortlichen weitere 1.400 Komparsen an, für eine Szene, die am Stettiner Bahnhof in Berlin spielen sollte. In der Dunkelheit werden sie – auf Lastwagen gepfercht – zum Dreh nach Babelsberg gebracht. Sie tragen Mäntel und zum Teil gestreifte Kleidung, in der Garderobe werden sie geteilt: Männer links, Frauen rechts.
Man ahnt sofort, wo diese Menschen herkommen, aus den Zwangsarbeiterlagern in und um Berlin. Jetzt werden sie auf einem Bahnhof dirigiert, den es in der Wirklichkeit schon gar nicht mehr gab. Denn während der Entstehungszeit des Films – in den letzten Kriegsmonaten – wurde Berlin weiter bombardiert, den Stettiner Bahnhof hatte es dabei auch getroffen, wie Comic-Zeichnerin Isabel Kreitz erzählt: „Der musste dann mit einem unglaublichen Aufwand in der großen Marlene-Dietrich-Halle in Babelsberg nachgebaut werden. Das hat Unsummen verschlungen.“
Neue Comic-Adaption
Was für eine Absurdität: deutscher Größenwahn. Das Jahr 1944 ist fast vorbei, es gibt beständig Luftalarm in Berlin, überall Trümmer und Tote – und das NS-Regime produziert, zu Durchhalte-Zwecken, riesige Schein-Kulissen. Isabel Kreitz erzählt in ihrem durchweg in Grautönen und bewundernswert detailliert gezeichnetem Comic „Die letzte Einstellung“ die Geschichte des letzten NS-Films „Das Leben geht weiter“, dessen Filmrollen am Ende in Bardowick, in der Lüneburger Heide, verschwanden und seither als verschollen gelten.
Der Film sollte von einer Hausgemeinschaft in Berlin handeln, von den dort lebenden, unterschiedlichen Menschen und ihren Schicksalen. „Da gibt es einen Techniker, der eine Geheimwaffe entwickelt, mit der der Krieg noch gewendet werden soll, ein Funk-Peilgerät. Es gibt die Kriegerwitwe, es gibt den kauzigen Professor im Untergeschoss, den Hausmeister, dieses Kaleidoskop von Figuren“, zählt Kreitz auf. In vielen Bildern zeigt die Comic-Zeichnerin die Dreharbeiten zum Propaganda-Film.
Parallelen zu Erich Kästner
Vor dieser umfangreichen grafischen und ebenso historischen Arbeit hat sich die Künstlerin – in Hamburg zu Hause – intensiv mit der Biographie und dem Werk von Erich Kästner beschäftigt. Unter anderem hat sie Comic-Fassungen zu „Emil und die Detektive“ und „Pünktchen und Anton“ geschrieben und gezeichnet. Kästner, dessen Bücher im Mai 1933 von den Nazis verbrannt worden waren, war in Deutschland geblieben, in der Inneren Emigration. Er hatte Schreibverbot, konnte sich unter anderem aber – unter Pseudonym und ohne Mitarbeiter-Nummer – als Drehbuch-Autor verdingen, darunter für die „Münchhausen“-Filmproduktion.
Im Comic-Buch „Die letzte Einstellung“ wird Erich Kästners Biographie literarisiert. Heinz Hoffmann, die Hauptfigur, teilt manches mit Kästner: Er arbeitet vor 1933 als Schriftsteller und Journalist, dann darf er nichts mehr veröffentlichten und will Material für den großen Gesellschaftsroman über die NS-Zeit sammeln. Ebenso führt er ein immer wieder amourös ausschweifendes Leben und ist später, vor allem nach dem Krieg, dem Alkohol zugetan. Im Gegensatz zu Heinz Hoffmann war Erich Kästner, wiewohl bei der UFA beschäftigt, nicht an der Produktion von „Das Leben geht weiter“ beteiligt. Hoffmann wird im Comic nämlich zum Ghostwriter des Drehbuchs für den NS-Propagandafilm.
Hauptfigur im Zwiespalt
Die Mitwirkung am letzten Film der Nazis wird ihn – in Isabel Kreitz‘ Comic-Geschichte – immer wieder beschäftigen. Denn mit diesem Engagement verknüpft ist eine große Frage: Wie viele Kompromisse kann man eingehen in einer Diktatur? Oder mehr noch: Kann man überhaupt Kompromisse eingehen?
„Man muss sich vorstellen, da ist ein Künstler, der elf Jahre lang nicht arbeiten konnte. Dazu gerät er auch in wirtschaftliche Not. Ein Künstler will auch produzieren und ein Publikum haben. Und die Chance, an dem Film mitzuarbeiten hat ihn dann korrumpiert. Ich versuche nicht, eine Entschuldigung dafür zu finden. Aber ich versuche, es zu erklären, wie es sich verhält“, erklärt Kreitz. Das Comic-Buch „Die letzte Einstellung“ spiegelt diesen Konflikt auf sehr subtile Weise. Auch das macht die Erzählung so eindrücklich.