Die Kunst hat ein Recht, verboten zu werden. Der Überzeugung war zumindest der Schriftsteller Alfred Döblin und legte damit schon vor 100 Jahren den Finger in die Wunde. Eine schrankenlose Kunst, die mit der Welt nicht in Konflikt gerät – so eine Kunst wäre ganz einfach: impotent: „Wir wollen wirken, und darum haben wir – ein Recht auf Strafe“, heißt es bei Döblin.
Und dieser Satz führt direkt zum Kern der Untersuchung, die Peter Jelavich gerade vorgelegt hat. Einer – wie er schreibt – „deutschen Ideologie“ fühlt er darin auf den Zahn. „Denn das ist wirklich ein Unikum der deutschen Verfassung, ein Unikum auf der ganzen Welt, dass Kunst mehr Freiheit eingeräumt wird, als politischen Meinungsäußerungen.“
Die Idee der Kunstfreiheit stammt aus dem 19. Jahrhundert
Erfahren hat das Jelavich sehr anschaulich vor etwa drei Jahren. Der amerikanische Historiker war nämlich einer von sieben Sachverständigen, die im Auftrag von Claudia Roth den Antisemitismusskandal auf der letzten Documenta aufarbeiten sollten. „Aber die Kunstfreiheit …!“ – diesen Einwand hat er damals oft gehört, sagt er. Oft genug, um danach zu fragen, woher sie eigentlich kommt, diese Folklore um die Freiheit der Kunst?
Die Idee der Kunstfreiheit stammt nicht aus den revolutionären Hirnen irgendwelcher Kunstavantgarden, das macht Jelavich klar. Nein. Die Kunstfreiheit ist das gedankliche Baby braver Bildungsbürger im 19. Jahrhundert. Und so heroisch sie klingt, sie war vor allem eines: extrem beschränkt. Beschränkt durch eine sehr bestimmte Vorstellung davon, was Kunst eigentlich ist. Etwas Heiliges, Weihevolles, etwas, das auf vornehme Distanz zur Welt geht, am Ende also unpolitisch ist.
„Kunstfreiheit ist eine Täuschung insofern, als dass es keine richtige Freiheit ist. Oder eine Freiheit nur in der ästhetischen Sphäre“, sagt Jelavich. Um es mit Döblin zu sagen: Die Kunst durfte zwar frei sein, aber um den Preis ihrer Impotenz. Und es ist ein Clou der Arbeit von Peter Jelavich, dass er zeigt, dass dieses Kunstverständnis zumindest juristisch bis in die Bundesrepublik hinein fortlebte. „Wenn ein Werk zu politisch war, dann war’s nicht Kunst für die Richter – und wenn zu sinnlich, dann war es auch nicht Kunst für die Richter. Dieses Spielchen ging bis in die Sechzigerjahre!“
Braucht es Kunstfreiheit überhaupt?
Die Liberalisierung der Gesellschaft erreichte in den Siebzigern auch das Bundesverfassungsgericht. Und das stellte nun Politische Kunst ausdrücklich unter den Schutz der Kunstfreiheit. Das Kunstideal des 19. Jahrhunderts scheint passé. Damit hören die Probleme allerdings nicht auf, meint Jelavich. „Warum soll Kunst mehr Freiheit genießen, als politische Meinungsäußerung, wenn Kunst nicht mehr als Agitprop ist, also zu 95 Prozent politische Meinungsäußerung? Man kommt aus dieser Zwickmühle nicht raus.“
Jelavich ist überzeugt: Es gibt keinen Grund, der Kunst eine Sonderfreiheit einzuräumen, wenn sie den Bereich des Politischen betritt. Das klingt radikaler als es ist. Man kann sich schon fragen: Braucht es Kunstfreiheit überhaupt? Faktisch ist die Meinungsfreiheit in Deutschland so umfassend, dass sie sogar die antisemitischen Kunstwerke auf der Documenta geschützt hat. Antisemitismus ist nicht illegal. Und trotzdem sollte man ihn kritisieren. Gerade das sei auf der Documenta aber unter die Berufung auf Kunstfreiheit unterbunden worden, so Jelavich. „Das Problem war: Die Künstler wurden angegriffen, heftig kritisiert und die versuchten sich hinter Kunstfreiheit zu verschanzen, als ob Kunstfreiheit bedeutet, man darf die Kunst nicht kritisieren.“
Und hierin liegt die eigentliche Pointe der Arbeit von Peter Jelavich. Seine Kritik der Kunstfreiheit bezieht sich nicht nur auf Recht und Gesetz. Ihm geht es genauso sehr um die diskursive Wirkung dieser Idee. Zur Ideologie wird sie dort, wo sie Kritik pauschal abwehren soll. Frei nach Döblin: Kunst hat nicht nur das Recht verboten zu werden. Sie hat genauso das Recht, kritisiert zu werden.