50 Jahre „Der weiße Hai“
Wie John Williams‘ Soundtrack Kinogeschichte prägte
Wie John Williams‘ Soundtrack Kinogeschichte prägte
Vor 50 Jahren erschreckte Spielbergs „Der weiße Hai“ die Kinowelt und etablierte sich als erster Blockbuster. Doch der wahre Star des Films ist der Soundtrack von John Williams, der nicht nur den Film prägte, sondern dem Komponisten auch einen Oscar einbrachte.
Bildquelle: Robert Darwin (via YouTube)
John Williams, Steven Spielberg oder Roy Schneider – wer ist der Star in „Der weiße Hai“? Die kurze Antwort: keiner davon. Es ist der Hai. Mit einem Maul voller Zähne und einem Ozean voller Beute verbreitet er Angst und Schrecken im Kino und ist der eigentliche Protagonist des Films. Dafür ist er allerdings ganz schön leinwandscheu. In den ersten 80 Minuten des Films bekommen wir ihn kaum zu Gesicht. Dennoch hält er die Zuschauerinnen und Zuschauer in Angst und Schrecken. Aber wie?
Wie John Williams‘ Musik den Hai zum Star machte
Der weiße Hai hat einen heimlichen Helfer, der ihm beim Verbreiten von Angst und Schrecken unter die Flossen greift. Und dieser Helfer ist der wahre Star in “Der weiße Hai”: die Musik. Denn zu sehen ist der Hai zwar die erste gute Stunde selten, zu hören aber umso öfter. Trotzdem fühlen wir als Zuschauerinnen und Zuschauer die Angst, obwohl wir ihren Grund noch gar nicht sehen können. Es brauchte genau zwei Noten, um einer Generation von Filmfans für immer ein mulmiges Gefühl am Strand zu bescheren.
Jaws Soundtrack
John Williams oder Antonín Dvořák – die zwei Noten der Angst
John Williams erfindet bei „Der weiße Hai“ das Rad nicht neu, aber rollen tut es trotzdem. Für das Hauptthema wird ein Motiv aus Dvořáks 9. Symphonie recht plakativ übernommen. Natürlich hat Williams mit dem gesamten Rest der Soundtracks wie gewohnt gezaubert, aber was Filmfans bis heute im Ohr geblieben ist, sind zwei Töne von Dvořák. Dass Williams sich von klassischen Komponisten inspirieren lässt, ist nichts Neues. Das liegt vielleicht daran, dass der wahre Meister ein ewiger Schüler ist. Und Williams war sich nie zu schade, auf den Schultern von Riesen zu stehen, bis er selbst einer wurde. In seinem Soundtrack zu „Star Wars“ finden sich Motive von Gustav Holst, Peter Tschaikowsky und Igor Strawinsky. Aber hätte Williams Dvořáks zwei Töne nicht in ein komplizierteres Geflecht aus Harmonien weben können? Wieso entschied er sich dazu, das Leitmotiv derart auf das Nötigste zu reduzieren?
Der Soundtrack ist mehr als nur das berühmte Hauptmotiv
Filmkomponist John Williams | Bildquelle: BSO
Die Musik von „Der weiße Hai“ ist natürlich mehr als das Hauptmotiv. Doch die Säulen des musikalischen Horrors sind zwei Noten, mit denen uns ein Cello das Fürchten lehrt. Die werden immer weiter wiederholt, nur der zeitliche Abstand der Wiederholungen verändert sich. Unterstützt wird das von den sprichwörtlichen Pauken und Trompeten. Die Rechnung geht auf, nicht trotz ihrer Einfachheit, sondern genau deswegen. Wer das Leitmotiv von „Der weiße Hai“ hört, dem ist klar, wo die Reise hingeht. Keine Zwischentöne, keine zu erhoffende Entspannung, keine mögliche Auflösung eines Akkords – die Botschaft lautet klar und deutlich: Gefahr! Das ist gerade für John Williams eigentlich untypisch, wie man an seinem wohl bekanntesten Meisterwerk hören kann.
Von ‚Jaws‘ zu ‚Star Wars‘: Die musikalische Evolution von John Williams
Ein gutes Beispiel dafür ist der Soundtrack zu „Star Wars„. Hier lässt sich die Musik immer ein wenig Zeit, bis sie mit ihrer Botschaft um die Ecke kommt. Im romantischen Thema „Across the Stars“ wartet die musikalische Liebe am Ende einer Straße, die abwechselnd mit verhaltenen Klarinettentönen und leicht bedrohlichen Hörnern gepflastert ist. Nur in den Höhepunkten lassen uns die Streicher den vollen Umfang der Romantik spüren. Auch der hoffnungsvolle Schmerz von „Binary Sunset“ wird uns nicht einfach so präsentiert. Er wartet als Oase am Ende einer Wüste aus flimmernden Streichern, einer schüchternen Harfe und einem französischen Horn, das uns subtil das Leitmotiv unterjubelt. Und gerade als wir glauben zu wissen, wo die Reise hingehen soll, kommt Williams mit der vollen Besetzung des Orchesters um die Ecke und schleudert uns mit epischen Klängen in die Weiten des Weltraums.
Across the Stars (Love Theme from „Star Wars: Attack of the Clones“)
Aber warum ist „Der weiße Hai“, verglichen mit Williams anderen Werken, reduzierter, zugespitzter, fast schon simpler? Die Antwort liegt in dem Filmgenre, von dem „Der weiße Hai“ teilweise inspiriert ist: Horror.
Effektive Einfachheit: Horror-Soundtracks von Hitchcock bis Nolan
Kleiner Aufwand für großen Schrecken, das hat in Horrorfilmen Tradition. Das beste Beispiel dafür ist die legendäre Duschszene aus „Psycho“ (1960). Hier spielt jeder Streicher genau eine Note, so kreischend, dass die Ohren fast bluten. Und bei jeder dritten Wiederholung kommt ein neues Streichinstrument mit jeweils neuer Note dazu. Harmonisch nicht zu simpel, aber im Aufbau einfach und dadurch effektiv. 1978 geht John Carpenter mit seinem Thema zu „Halloween“ ähnliche Wege. Ein Klavier, das der rechten Hand eine schnelle, simple Tonfolge abverlangt und für die tiefen Töne jeweils zwei davon so hart anschlägt, dass die linke Hand fast Schaden nimmt.
Theme from Psycho (1960) – Shower Scene HQ
Obwohl es kein Horrorfilm ist, nutzt auch Christopher Nolas „Dunkirk“ simple, aber effektive Mittel, um Bedrohung hörbar zu machen. Im Hauptmotiv hört man kontinuierlich das Ticken einer Uhr. Das löst sofort Unwohlsein aus, einfach weil es sich nach Zeitdruck anhört.
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Wenn wir also auf die großen Klassiker des Horrors blicken, signalisieren die meisten Titel eine klare Botschaft: Jetzt ist keine Zeit für Zwischentöne, jetzt ist es Zeit, in Panik zu verfallen. Und an dieses simple Konzept hält sich auch John Williams.
Die Macht des Unsichtbaren: Wie Musik Horror verstärkt
Horrorfilme arbeiten nicht nur mit dem, was wir sehen, sondern vor allem mit dem, was wir nicht sehen. Der Mensch hat Angst vor dem Unbekannten und ein flackerndes Licht oder eine knarrende Diele im Hausflur zerrt oft mehr an unseren Nerven, als das filmische Ungeheuer dann wirklich zu sehen. Das ist die Spannung, die bei einem sogenannten Jumpscare – also dem klassischen Erschrecken des Zuschauers – ihren Höhepunkt findet. Beim Jumpscare springt das Monster ins Bild, die aufgebaute Angst wird plötzlich visuell sichtbar. Das ist nur so erschreckend, weil wir den Horror lange fühlen, bevor wir ihn sehen. Horrorfilme wie „The Village“ treiben das auf die Spitze. Bis zum Schluss wird hier die Angst vor einer Bedrohung aufgebaut, die man bis zum Ende nicht sieht. Das wäre ohne Musik schlicht und ergreifend nicht möglich.
Natürlich kann man dieses diffuse Gefühl der Angst auch visuell darstellen, ohne das Monster zu zeigen. Flackernde Lichter, hektische Kameraführung oder schemenhafte Schatten, die sich im Hintergrund bewegen, helfen der Angst auf die Beine. Aber was Panik am besten transportiert, ist die Akustik. Wer „Shining“ ohne Ton anschaut und währenddessen z.B. ABBA hört, dem werden selbst die gruseligsten Szenen kaum Angst machen. Und das gilt auch für Badeszenen in „Der weiße Hai“. Ohne die zwei Noten der Angst würden manche Szenen im Film wirken, als wären sie Aufnahmen vom letzten Familienurlaub. Da ist es wichtig, dass John Williams‘ Soundtrack eine klare Botschaft sendet. Alle Zuschauer sollen wissen, dass Gefahr droht.
„Der weiße Hai“ – ein unerwarteter Klassiker
Roy Schneider in „Jaws“ – „Der weiße Hai“ | Bildquelle: BR/ARD Degeto
Der Regisseur von „Der weiße Hai“, Steven Spielberg, hat mal in einem Interview von dem Moment erzählt, in dem John Williams ihm zum ersten Mal das Leitmotiv vorspielt. Spielberg erwartete von Williams wie immer ein fulminantes Spektakel, bekommen hat er aber nur zwei Töne. Der Regisseur dachte zuerst, das sei ein Scherz. Doch Williams blieb hartnäckig und überzeugte Spielberg davon, die Musik zumindest einmal im Film zu testen. Nach und nach fand Spielberg gefallen daran und das bescherte uns einen der denkwürdigsten Film-Soundtracks aller Zeiten. Wahrscheinlich hat John Williams diese simple Tonfolge vorher bei Dvořák gehört. Aber daraus ein Leitmotiv zu machen, das einen ganzen Film trägt, ist dennoch eine beachtliche Leistung. Vor allem, wenn man den kommerziellen Erfolg von „Der weiße Hai“ bedenkt. Williams‘ Entscheidung war kein hochtrabender Kunstgriff, um Filmliebhaber zu verwirren. Seine Musik hat einen Blockbuster in den Status eines Klassikers erhoben, dessen Soundtrack bis heute genauso bekannt ist wie der Film selbst.
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