Es lag noch alles in Trümmern. München war zerbombt und das jüdische Leben in der bayerischen Landeshauptstadt nahezu ausgerottet, damals im Sommer 1945, wenige Wochen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Nur wenige Jüdinnen und Juden hatten die Verfolgung der Nationalsozialisten in der sogenannten „Hauptstadt der Bewegung“ überlebt. Daher ist es für den Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, auch „unvorstellbar“, dass diese wenigen Überlebenden schon am 15. Juli 1945 eine neue israelitische Kultusgemeinde in München gegründet haben.
Zentralrat der Juden: „Übermenschliche Kraft“ am Werk
„Es muss eine übermenschliche Kraft gewesen sein“, sagte Josef Schuster beim Festakt zum 80. Jahrestag der Wiederbegründung der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern am Dienstagabend. „Diese zu gründen, in den Trümmern des jüdischen Lebens in Deutschland, in der blanken Hoffnungslosigkeit im Angesicht der Schoa, drückt eine Hoffnung in einer hoffnungslosen Zeit aus, die mich berührt und die mich beeindruckt.“
Zunächst hatten die sich wieder zusammengeschlossenen Gemeindemitglieder keinen Ort für ihre Gottesdienste. Die prominent am Münchner Karlsplatz gelegene Hauptsynagoge, Dreh- und Angelpunkt für das mehrheitlich liberale Judentum, wurde bereits 1938 abgerissen – als eine der ersten Synagogen in Hitler-Deutschland und auf persönlichen Befehl des Führers; das Gotteshaus der orthodoxen Juden in München wurde abgebrannt. Nur eine dritte Synagoge in der Reichenbachstraße überdauerte den Krieg – aus purem Eigeninteresse der Nazis: Sie wollten vermeiden, dass die umliegenden Wohngebäude bei einem Abriss oder Brand auch in Gefahr gerieten.
Doppel-Jubiläum mit 40 Jahren Charlotte Knobloch als Präsidentin
Und so wurde die Synagoge an der Reichenbachstraße nach dem Krieg für die wieder gegründete Kultusgemeinde provisorisch wiederhergerichtet und 1947 eingeweiht. Eine, die dort nach dem Krieg einen festen Anlaufpunkt fand, ist Charlotte Knobloch. 1985 wurde die heute 92-Jährige, die den Holocaust letztlich versteckt bei einer Bauersfrau in Mittelfranken überlebte, zur Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde gewählt. „Das war überhaupt nicht mein Lebensziel“, sagt Knobloch dem BR anlässlich ihres 40-jährigen Jubiläums als Präsidentin, das beim Festakt zu 80. Jahren Kultusgemeinde in der Ohel Jakob-Synagoge mitgefeiert wurde. Dieses Gotteshaus am Jakobsplatz wurde mit dem Zuzug vieler Juden aus Osteuropa nötig, die Synagoge an der Reichenbachstraße wurde für die Münchner Juden zu klein.
Als Standort für die neue, größere Synagoge wurde bewusst die zentrale Innenstadtlage gewählt. „Wenn Sie eine Synagoge so in den öffentlichen Raum setzen, dann haben die jüdischen Menschen in diesem Moment wieder das Gefühl der Akzeptanz“, sagt die Leiterin des Kulturzentrums der Israelitischen Kultusgemeinde, Ellen Presser, dem BR. „Wir sind sichtbar. Wir dürfen wieder sichtbar sein in der Stadt“, so Presser.
Nach Nahost-Krieg: „Offenheit und Radikalität des Antisemitismus“
Die Freude über das so sichtbare Wiederaufblühen jüdischen Lebens in der Landeshauptstadt – beim Festakt mit zahlreichen Vertretern aus Politik und Gesellschaft war sie getrübt durch die gegenwärtig wachsende Zahl antisemitischer Vorfälle – vor allem im Zusammenhang mit der Lage im Nahen Osten, der Hamas und Israels Reaktion auf die radikalislamische Bedrohung. All das hat auch Konsequenzen für die jüdische Community, sagte Josef Schuster beim Festakt: „Die Offenheit und Radikalität des Antisemitismus in diesem Land, die wir seit dem 7. Oktober 2023 erleben, schockieren uns. Wir ringen zuweilen auch mit uns.“
Vor dem Hintergrund sagte Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU), in Deutschland sei „längst wieder etwas aus dem Gleichgewicht geraten“. Eine tolerante Gesellschaft könne Judenhass, der heutzutage „von rechts, von links, und oft aus religiösem Eifer“ komme, nicht hinnehmen. Doch die Gesellschaft habe zu lange geschwiegen, „insbesondere, wenn Antisemitismus als ‚Israelkritik‘ verharmlost wurde“.