Wenn es in Deutschland eine Großstadt gibt, die dem Rausch huldigt, dann ist es natürlich München, wo das Oktoberfest bekanntlich als fünfte Jahreszeit gilt und die Ausgelassenheit nicht mal vor Champagnerflaschen für 5.000 Euro haltmacht. So gesehen dürfte sich der griechische Gott Dionysos an der Isar genauso wohlfühlen wie auf dem Olymp, schließlich ist er der rebenbekränzte Schutzpatron jeder Art von Ekstase. In Athen wurden seine Festtage, die „Dionysien“, zwar im Frühling gefeiert, aber die Hemmungslosigkeit als solche ist ja nicht an Jahreszeiten gebunden.
Dionysos gefährdet die Macht in Theben
Damals am Fuße der Akropolis wurden zu Ehren des Gottes alljährlich neue Stücke aufgeführt und prämiert, ein Sieg galt als höchster Dichterruhm. Mit seinen ziemlich blutigen „Bacchantinnen“ (auch bekannt als „Bakchen“) gelang Euripides noch kurz vor seinem Tod im Jahr 406 vor Christus so ein Triumph. Er beschrieb den Gegensatz von Ordnung und Chaos, Vernunft und Wahnsinn, Mäßigung und Hemmungslosigkeit. Der Regierungschef von Theben, König Pentheus, fürchtet um seine Macht, seit Dionysos in der Stadt ist und seine Anhänger(innen) zu Ausschweifungen anstiftet, auch gewalttätigen. Pentheus will eingreifen, wird jedoch von den titelgebenden, völlig unzurechnungsfähigen Bacchantinnen, darunter seine eigene Mutter, in Stücke gerissen. Dem Rausch folgt die Reue.
Die kanadische Autorin Anne Carson, seit ihrer Jugend begeistert von der griechischen Antike, bearbeitete den Stoff neu, der Text kam in Deutschland erstmals vor ein paar Jahren am Staatstheater Hannover auf die Bühne. Jetzt inszenierte ihn Mirjam Loibl für die Theaterakademie August Everding in München, was auch deshalb überzeugte, weil Schauspielstudenten aufgrund ihrer Jugend zu Dionysos zweifellos ein intimeres Verhältnis haben dürften als erfahrenere Kollegen. Die Sehnsucht nach dem Rausch ist zwar an sich altersunabhängig, junge Leute dürften ihn aber allemal als aufregender und verlockender empfinden als durch Schaden (und Kopfweh) klug gewordene Senioren.
Feierbiest Dionysos nimmt eiskalt Rache
Das Ausstatterkollektiv MOTHER hatte auf der Spielfläche im Akademietheater cremeweiße Ballonseide ausgebreitet, vielleicht ein Sinnbild dafür, dass hier Leute „abheben“. Ein Wasserspender soll signalisieren, dass Dionysos für das „feuchte Element“ steht, was nicht nur für den Wein gilt, sondern für alle Arten von (Körper-)Flüssigkeiten. Ein paar begehbare Spanplatten ragen als Berg Kithairon in die Höhe, wo sich die totale Zügellosigkeit der Bacchantinnen abspielt. Mehr theatraler Aufwand ist gar nicht nötig, zumal die Vorstellung nur rund eine Stunde dauert.
Olivia Lourdes Osburg und Samuel Spieß teilen sich die Rolle des Dionysos, wobei letzterer deutlich lasziver auftritt als seine Kollegin. Er zeigt jedenfalls viel Haut und zelebriert Erotik, während sie zeitweise Stierhörner aufsetzt, Symbol eines cholerischen, leicht reizbaren Charakters. Das Widersinnige an dieser Tragödie: Dionysos markiert zwar das Feierbiest, bleibt selbst aber absolut klarsichtig und nimmt eiskalt Rache an Pentheus, der partout nicht an ihn glauben will.
Sex ist als Religion systemsprengend
Der aus Kiew stammende Ukrainer Volodymyr Melnykov spielt den König absichtlich ungelenk, gehemmt in seinen Bewegungen, ständig am Image der Autoritätsperson arbeitend. Allerdings trägt er Perlenkette und Ohrring, wohl mehr als Kennzeichen seines Reichtums denn als Diversity-Bekenntnis. Es ist fesselnd, diesem Machtkampf der Prinzipien zuzuschauen, auch, weil Musiker Daniel Bierdümpfl dazu mit der E-Gitarre die passende, unheilvolle Soundkulisse schafft.
Auch alle anderen Mitwirkenden machten ihre Sache mehr als achtbar: Elias Khani-Alemouti, Luca Kronast-Reichert, Sonja Carina Reisenbichler, Levin Stein und Rebekka Ziemer. Ein Bacchanten-Chor, wie er auch heutzutage noch durch eine wild bewegte Party-Nacht wanken könnte, immer auf der Suche nach Grenzen, die zu überschreiten sind. Sie sprechen von Religion und haben doch nur Sex, wähnt Pentheus, blind, wie er für Dionysos nun mal ist. Dabei ist Sex durchaus systemsprengend, wenn er zur Religion wird, wie alle 68er wissen. Absolut sehenswert, diese „Bakkhai“, und wegen der Kürze mit einem lauen Sommerabend sehr gut vereinbar.
Wieder am 14., 15., 17. und 18. Juni am Akademietheater München.