Ob es ein Haus ist oder eine Wohnung: Der Ort, an dem man aufgewachsen ist, ist eine Art persönlicher Datenspeicher – vollgestopft mit Kindheitserinnerungen. Im Falle von Nora, der Hauptfigur des norwegischen Dramas „Sentimental Value“, ist diese familiäre Festplatte eine im sogenannten Drachenstil erbaute Stadtvilla in Oslo.
Seit Generationen befindet sich die altmodische Trutzburg mit der rot-braunen Holzfassade und den imposanten Ziergiebeln in Familienbesitz. Jeder Raum erzählt tausend Geschichten, einzelne Gegenstände lassen die gerade erst verstorbene Mutter lebendig werden. Als zur Trauerfeier plötzlich Noras Vater im Flur steht, werden auch schmerzhafte Erinnerungen wach.
Stellan Skarsgård mit süffisantem Altherren-Charme
„Sentimental Value“ erzählt die Geschichte der Familie Berg. Der von Stellan Skarsgård mit süffisantem Altherren-Charme gespielte Patriarch ist ein berühmter Filmregisseur. Der Lebemann hat die Familie verlassen, als seine zwei Töchter noch klein waren. Nora, die ältere der beiden, ist Schauspielerin geworden – nicht, um dem Vater nachzueifern, sondern um in immer neuen Rollen der eigenen Existenz zu entfliehen. Denn die Scheidung der Eltern hat sie traumatisiert.
Entsprechend brüsk lehnt sie ab, als der Vater ihr die Hauptrolle in seinem neuen Film anbietet – obwohl die Rolle extra für sie geschrieben wurde: „Ich kann nicht mit ihm arbeiten. Es fällt uns schwer, zu reden. Er ist ein sehr schwieriger Mensch.“
Dass sie selbst nicht der einfachste Mensch der Welt ist, wird im Zusammenspiel mit ihrer Schwester deutlich. Während Agnes ein beschauliches Familienleben führt, ist Nora beziehungsunfähig und lebt allein in einem Hochhausapartment, dessen triste Einrichtung ihr Innenleben widerspiegelt. Dass der autobiografisch gefärbte Film ihres Vaters im alten Familienanwesen gedreht werden soll, macht sie noch wütender, als sie ohnehin schon ist – auch wenn sie es so nie sagt.
Die Unfähigkeit zur Kommunikation innerhalb einer Familie
Und genau darum geht es in „Sentimental Value“: um die Unfähigkeit zur Kommunikation innerhalb der Familie. Und um generationsübergreifende Traumata, mit deren Wirkung auch Drehbuchautor und Regisseur Joachim Trier vertraut ist. Denn sein Großvater sei ein Widerstandskämpfer im Zweiten Weltkrieg gewesen, sagt Trier. Über gewisse Sachen habe er nie sprechen können.
Auch Noras Vater verbindet mit dem Haus Kindheitserinnerungen, die ihn unbewusst geprägt haben. Wie tief sie reichen, wie sehr sie das Familiengefüge unterwandert haben und wie es trotz aller Verletzungen Hoffnung auf einen Neuanfang geben kann, arbeitet der Film meisterhaft heraus.
Mit „Sentimental Value“ zementiert Joachim Trier seinen Ruf als Filmemacher, dessen psychologische Werke das Publikum in der eigenen Lebenswelt abholen – mit einer Mischung aus Ingmar-Bergman-ähnlicher Tiefgründigkeit und slapstickhafter Leichtigkeit.
In Teilen erinnert das an Triers Oscar-nominierte Tragikomödie „Der schlimmste Mensch der Welt“ – auch, weil Renate Reinsve erneut eine herrlich verkorkste Hauptfigur spielt. Hier allerdings sind Figurenkonstellation und Handlungsaufbau sehr viel komplexer – was „Sentimental Value“ zu einem Film macht, der in der kommenden Award-Saison unter Garantie eine tragende Rolle spielen wird.

