Zuerst ist ihm die Veränderung der Pupillen aufgefallen. Sie sind ungewöhnlich groß, bemerkt Markus, der Erzähler in Paul Maars Novelle „Lorna“ – als er ihr in die Augen schaut. Und ebenso registriert er die hektischen Bewegungen seiner Freundin, ihre spürbare innere Unruhe. Der Kipp-Punkt in diesem Prosatext über einen Menschen, der seelisch schwer erkrankt, kommt beiläufig. Trotzdem ahnt man: nach diesem Augen-Blick ist die Welt für Lorna und Markus eine andere: „Es ist ja nicht so, dass er – wie ich zum Beispiel –, der Erzähler, durch eigene Erfahrungen davon erzählen kann. Es irritiert ihn wahrscheinlich, dass sich ihr Verhalten ändert – und er weiß nichts damit anzufangen“, sagt Maar im Gespräch mit dem BR.
Parallelen zum Leben der Schwester
Die Geschichte, die Paul Maar in seinem ersten Prosatext für Erwachsene erzählt, begleitet ihn seit langem. Es ist – literarisch verfremdet und mit großer Sensibilität gestaltet – die Geschichte seiner Schwester Barbara. Lorna erkrankt wie sie an einer bipolaren Störung und muss schließlich, nach einigen Brandstiftungen, stationär behandelt werden. In der Perspektive der Novelle, die in den 70er-Jahren spielt, heißt das: Lorna wird vorrangig medikamentös behandelt. Zu den besonders berührenden Passagen des Buches gehören die, in denen Markus Lorna in der Klinik besucht und völlig apathisch vorfindet. Sie hat die Tabletten verweigert. Auch das eine Parallele zur Geschichte der Schwester von Paul Maar, erzählt er: „Irgendwann hat das der Psychiatrie-Arzt mitbekommen. Und dann hat sie gegen ihren Willen eine Depotspitze bekommen, mit Medikamenten, die eine Woche ausgereicht haben. Und die sie völlig zur Schlafwandlerin gemacht hat. Sie hat verzögert gesprochen, ihr Temperament war nicht mehr zu erkennen. Sie wurde ruhiggestellt.“
Man kann diesen Prosatext auch als Kritik an derartigen Behandlungsmethoden lesen – und als Aufforderung, Menschen, die an schweren Krankheiten leiden, in der Therapie anders zu begegnen. Lornas Geschichte wird aber nicht auf die der Störung reduziert. Es geht um ihre Herkunft, um den unbekannten Vater, einen Soldaten aus Nordirland, der Frau und Tochter in Penzberg sitzen ließ. Es geht um Lornas Lebenspläne, um ihre Stärke und ihre Schönheit, um ihre roten Haare. Alle aus der Clique bei den Hochhäusern waren in sie verliebt, bemerkt Markus einmal. Er wird ihr Freund. „Es ist eigentlich eine Idealfigur. Eine junge Frau, in die ich mich, der ich sehr schüchtern war, als junger Mann gerne verliebt hätte“, sagt Maar.
Biografische Verbindungslinien
Paul Maar erzählt die Geschichte von Lorna und Markus in der ihm eigenen unaufgeregten Prosa, in kurzen Sätzen und mit vielen Dialogen. Der Erzähler ist jünger als der Schriftsteller, dennoch gibt es biografische Verbindungslinien. Wie Paul Maar geht Markus nach der Schule an die Stuttgarter Kunstakademie und begeistert sich für Laurence Sternes Roman „Tristram Shandy“. Ebenso fließt, beiläufig, die Geschichte von Kaiser Heinrich ein, einer historischen Figur, über die Paul Maar eines seiner vielen Theaterstücke geschrieben hat. Verglichen mit den Romanen und Erzählungen für Kinder- und Jugendliche ist dieser Prosatext aber besonders. Er führt in ein tiefes Dunkel. Und er bleibt dort: „Bei Kindern versucht man immer, sie nicht in die Traurigkeit zu entlassen. Und möchte dann als Autor einen versöhnlichen oder zumindest neutralen Schluss. Nicht negativ. Kindern würde ich das nicht zutrauen. Erwachsenen darf ich das gerne.“
Lorna – das sei hier angedeutet – wird in der Klinik nicht geholfen. Mehr noch: Sie kann ihr Leiden nicht mehr ertragen und trifft eine fatale Entscheidung. Das wäre jene unerhörte Begebenheit, die der Novelle – als literarischer Form – zu eigen ist. Im letzten Kapitel schildert Markus einen Besuch bei Lorna, wiederum in einer Klinik. Und bemerkt schließlich: „Eine Drehtür spuckte mich nach draußen.“ Ein Satz wie ein Schlag am Ende eines leisen, aber spürbar berührenden und auch erschütternden Buches.