„Seit dem 7. Oktober muss ich neu bestimmen, wer ich bin und wie ich arbeite. Mein politisches Arbeiten richtet sich stärker auf Dialog und darauf, Austausch einzufordern.“ Das sagt Sheri Avraham. Künstlerin, Kuratorin, Aktivistin, geboren in Israel, seit 2006 lebt sie in Wien. Ihre Arbeit kreist um Identität, Zugehörigkeit und um eine Mizrahi-Perspektive: Das heißt, sie schildert die Sicht orientalischer Jüdinnen und Juden.
Anschlag verschärfte antisemitische Tendenzen
Für sie war der 7. Oktober ein Bruch: persönlich, künstlerisch, politisch. Denn seitdem hat sich vieles verschärft – in Israel wie auch in Europa. Die Sprache wurde härter, Debatten radikaler, und selbst in Kunst und Kultur, wo man sonst bemüht ist, jede Mikroaggression zu entlarven, scheint beim Antisemitismus oft das Gegenteil zu gelten. „Nach dem 7. Oktober hat es einen Monat gedauert, bis ich wieder das Haus verlassen konnte“, erzählt Avraham.
Was für die Künstlerin Sheri Avraham ein existenzielles Gefühl ist, spiegelt sich auch in den Strukturen des Kulturbetriebs. Sie verweist auf Brüche, die sich schon lange in der Kunst- und Kulturszene zeigen. Spätestens die letzte Documenta hat vor Augen geführt, wie tief eine antisemitische Bildsprache in die Gegenwartskunst hineinwirkt. Das Manifest „Initiative GG 5.3 Weltoffenheit“, das sich gegen den Boykott Israels durch BDS wendete, entzündete eine Debatte über Antisemitismus-Klauseln und Kunstfreiheit. Und zuletzt hat der sogenannte Historikerstreit 2.0 gezeigt, dass die Einzigartigkeit der Shoah keinen Konsens mehr darstellt. Diese Konflikte waren also schon da – der 7. Oktober hat sie nur verschärft.
Eine neue Gewalt in der Sprache
Leon Kahane ist bildender Künstler, lebt in Berlin und beobachtet seit Jahren, wie Antisemitismus in der Kunstszene verhandelt wird. Immer wieder, sagt er, ging es dabei um Grundsätzliches – um Ethik, um Begriffe, um die Frage, wie der Holocaust gedeutet wird. Viele hatten längst ihre Positionen bezogen, andere schwiegen, weil sie ahnten: Jede Äußerung markiert sie als Außenseiter.
Überraschend war der Bruch am 7. Oktober für ihn deshalb nicht. Aber er hat etwas verändert – mit der Gewalt des 7. Oktobers habe auch die Gewalt in der Sprache zugenommen, sagt Kahane. „Da gibt es einen Zusammenhang, dass ein antisemitischer Akt eine antisemitische Welle lostritt. Das hat man auch in der Kunst gesehen. Es gab Ausladungen. Es gab auch Solidaritätsbekundungen für Leute, die sehr antisemitische Sachen gepostet haben am 7. Oktober.“
Anfeindungen im Alltag
Für die israelische Künstlerin Avraham blieb es nicht bei Worten. In dem Wiener Atelierhaus, in dem sie seit Monaten arbeitete, wurde sie nach dem 7. Oktober offen markiert. „Wir hatten eine Generalversammlung im Atelierhaus“, berichtet Avraham. „Einer bestand immer darauf, mit Kufiya zu kommen. Und dieser Mensch hat dann ‚aus Versehen‘ einen BDS-Aufkleber genau auf meine Tür geklebt. Es gab dort nur eine Israelin – und nur eine Tür mit einem Sticker. Ich war außer mir und habe in die Gruppe geschrieben: Wenn ihr mich rauswerfen wollt, dann sagt es mir ins Gesicht und klebt es mir nicht an die Tür.“
Für die 46-Jährige war der Aufkleber das Signal, dass sie in diesem Kollektiv keinen Platz mehr hatte. Sie verließ das Atelierhaus und gab damit auch den Versuch auf, Teil dieser Gemeinschaft zu bleiben. Auch ihr sonstiger Alltag hat sich verändert: Auf Veranstaltungen geht die Künstlerin inzwischen nur noch in Begleitung. Und auch auf Instagram wurde Sheri Avraham namentlich markiert, als angebliche Unterstützerin eines „Genozids“. Ihre Likes wurden durchforstet, Screenshots gesammelt, um daraus eine Anklage zu konstruieren. „Das ist eine faschistische Strategie“, sagt Avraham, „und ausgerechnet die, die sich Antifaschisten nennen, wenden sie an“.
„Silent Boykott“: Unsichtbare Ausgrenzung
Neben direkten Anfeindungen gibt es in der Kunstszene noch eine andere Form von Ausgrenzung – weniger sichtbar, aber nicht minder wirksam. „Silent Boykott“ nennen Beobachter dieses Phänomen: Werke werden nicht mehr gezeigt, Einladungen nicht mehr ausgesprochen, Anträge nicht weitergereicht. Offiziell geschieht nichts, doch faktisch geraten jüdische und israelische Künstlerinnen und Künstler an den Rand.
Immer wieder schlägt der Boykott auch offen durch: auch auf der großen Bühne. Vor ein paar Wochen etwa sagte das Flanders Festival in Gent das Gastspiel der Münchner Philharmoniker mit ihrem Chefdirigenten Lahav Shani ab – mit der Begründung, seine Nähe zum Israel Philharmonic Orchestra lasse an seiner Haltung gegenüber der israelischen Politik zweifeln. Ein Schritt, der europaweit Empörung auslöste.
Politik verweist auf Antisemitismus-Klausel
Was also tun in einem Klima, in dem jüdische und israelische Künstlerinnen und Künstler ausgegrenzt, ausgeladen, angefeindet werden – und in dem Antisemitismus selbst in der Kunst immer wieder reproduziert wird?
Die Politik hat dafür seit Jahren nur eine Antwort: die Antisemitismus-Klausel. Institutionen, die öffentliche Gelder bekommen, sollen sich verpflichten, jede Form von Judenhass zurückzuweisen. Doch ob sich damit tatsächlich etwas verändert – darüber wird gestritten. Gerade Künstler wie Leon Kahane bezweifeln, dass eine Klausel allein reicht: Solange die Szene nicht bereit sei, Antisemitismus als zerstörerischen Mechanismus zu begreifen, bleibe jede Klausel bloßes Symbol.
Für jüdische und israelische Künstlerinnen und Künstler aber heißt das: Sie tragen nicht nur die Traumata des 7. Oktober, sie müssen zugleich in einem Kulturbetrieb bestehen, der ihnen die Solidarität verweigert und ihre Stimmen marginalisiert.