„Reisen bildet“, schrieb Berndt Schmidt, der Intendant des Berliner Friedrichstadt-Palasts, an ein texanisches Ehepaar, dass sich bei ihm „ganz entsetzt“ darüber beschwert hatte, seine Revue sei zu freizügig und habe ihre 26-jährige (!) Tochter traumatisiert. Solche Kritik aus dem fundamentalistischen Lager lässt Schmidt an sich abperlen, was eine gewisse Portion Unerschrockenheit erfordert, denn sein Haus lebt nicht zuletzt von internationalen Touristen. Die Berliner allein können die 1.900 Plätze nicht füllen, zahlreiche Busreisende gehören zu den täglichen Gästen.
Schmidt gehört zu den Theaterleitern, die sehr viel Wert auf Diversität und gelebte Toleranz legen, was im kommerziellen Unterhaltungsgeschäft in dieser Deutlichkeit die Ausnahme ist. Nach der Bundestagswahl 2017, als die AfD ihren ersten großen Wahlerfolg in Sachsen feierte, hatte er angekündigt [externer Link], sich „künftig noch deutlicher als bisher von 20 oder 25 Prozent unserer potenziellen Kunden im Osten abgrenzen“ [externer Link/möglicherweise Bezahl-Inhalt] zu wollen, er wolle deren Geld nicht.
„Wir leben verschieden, wir lieben verschieden“
Auch jetzt, bei der Uraufführung der neuen Grand Show „Blinded by Delight“ auf der größten Bühne der Welt wies er das Publikum eingangs daraufhin, dass er 400 Mitarbeiter aus vierzig Nationen beschäftige: „Auch aus Nationen, die sich derzeit erbittert bekriegen.“ Gemeint sind damit natürlich Russland und die Ukraine, aber auch Israel und die arabische Welt. In einem derart große Tanzensemble sind viele Weltgegenden vertreten. „Wir sind verschieden, leben verschieden, lieben verschieden, aber wir respektieren uns und wollen alle dasselbe: Unsere Gäste begeistern“, so Schmidt.
Leicht ist das interkulturelle Zusammenleben allerdings nicht immer, räumt Schmidt gegenüber dem BR ein: „Natürlich ist es für jemanden, dessen Familie jede Nacht von Russland aus bombardiert wird, schwierig, das voneinander zu trennen. Aber wir kriegen es im Moment hin, wir nehmen teilweise auch Rücksichten, natürlich, in den Garderoben zum Beispiel. Wir fragen, könnt ihr miteinander und wenn ein oder zwei Leute sagen, bitte jetzt gerade nicht, dann zwingen wir sie auch nicht dazu.“
Auftritte von singenden Glückshormonen
In der neuen Show „Blinded by Delight“ geht es um den Mut zu Glücksmomenten, der vielen angesichts der Kriege und Krisen abhanden gekommen ist, wie der Intendant bedauert. Autor und Regisseur Oliver Hoppmann lässt in der rund 15 Millionen Euro teuren Produktion denn auch singende Glückshormone wie Endorphin, Serotonin, Oxytocin und Dopamin auftreten, um die Titelheldin Luci (Denise Lucia Aquino, eine gebürtige Berlinerin mit philippinischen und afroamerikanischen Wurzeln) aus ihren Depressionen zu holen.
Der Schauwert ist dank der Lichtregie und der Kostüme von US-Designer Jeremy Scott groß („Mode ist für mich eine Form des Eskapismus“), einschließlich einer erotischen Wasserplanscherei, und das ist für eine Revue bekanntlich die härteste Währung. Ob die Story plausibel ist, ob die Schlagertexte nachvollziehbar sind, ob die einzelnen Nummern immer elegant miteinander verknüpft sind, ist zweitrangig. Hauptsache, das Publikum wird von der guten Laune angesteckt und kann sich im tristen Nachrichtenstrom mal wieder gut zwei Stunden entspannen und freuen. Höhepunkt ist natürlich die vielbeinige Girl-Reihe, Berlins Markenzeichen.
„Heißt auch, dass man Unterschiede aushält“
„Es kann sein, dass es draußen mehr Skepsis und Feindseligkeit gibt, aber das beirrt uns ja nicht“, so Schmidt über das derzeit gereizte gesellschaftliche Klima: „Das bestärkt uns ja eher auf dem richtigen Weg. Diverser kann Berlin überhaupt nicht sein.“ Wer damit nicht klarkomme, für den sei es schade, denn Vielfalt bringe „Schönes“ hervor: „Das ist ja auch ein gutes Gefühl. Deswegen kommen die Leute gerne zu uns und sehen das auch gerne. Also wir haben uns hier wirklich vorgenommen, respektvoll miteinander umzugehen. Das heißt auch, dass man Unterschiede aushält.“
Angesichts eines hervorragend laufenden Kartenvorverkaufs für die neue Show glaubt der Intendant an eine „Abstimmung mit den Füßen“: „Da wir jetzt von Rekord zu Rekord eilen, ist es ja so, dass die schweigende Mehrheit Gott sei Dank offenbar noch lange nicht gegen Diversität in diesem Land ist.“
„Blinded by Delight“, Friedrichstadt-Palast in der Berliner Friedrichstraße