Sten Nadolny ist ein in vielerlei Hinsicht außergewöhnlicher Schriftsteller: Als er 1980 den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann, teilte er das Preisgeld mit allen Autorinnen und Autoren, die leer ausgegangen waren. Nadolny tat das, um den Wettbewerb zu „entbittern“, wie er das nannte. Gewonnen hatte er damals mit einem Auszug aus jenem Roman, der später ein Welterfolg und Millionenseller werden sollte: „Die Entdeckung der Langsamkeit“.
Mittlerweile ist Sten Nadolny 83 Jahre alt und legt nun einen neuen Roman vor: „Herbstgeschichte“, so heißt er. Knut Cordsen hat Nadolny kurz vor der Buchpremiere in München getroffen.
Da sitzt er einem gegenüber: Sten Nadolny, freundlich lächelnd und „unheilbar bürgerlich“, um es mit einem Wort aus seinem neuen Roman „Herbstgeschichte“ zu sagen, der so einiges mit ihm selbst zu tun hat und der so verschachtelt ist, dass er in einer kurzen Aufzugfahrt, in einem elevator pitch, nicht zusammenzufassen ist. „Ich fürchte, der Pitch würde mir nicht gelingen, selbst wenn ich es versuchen würde. Tut mir leid, das schaffe ich nicht“, sagt Sten Nadolny. Versuchen wir es dennoch, zumindest ansatzweise:
„Herbstgeschichte“ – Eine gemeinsame Reise
Im Zentrum von „Herbstgeschichte“ steht auf jeden Fall die Geschichte einer „jungen, rätselhaften“ Frau, die zwei weitaus ältere Männer bei einer gemeinsamen Reise mit dem Zug kennenlernen. Einer der beiden Freunde ist Schriftsteller und am Chiemsee aufgewachsen, mit anderen Worten: das literarische alter ego von Sten Nadolny:
In dem Fall war der Anstoß zu dem ganzen Roman, also die erste Idee, der erste Gedanke kam auf, als ich einen Romananfang von Franz Kafka und Max Brod gelesen habe, ‚Richard und Samuel‘ heißt der. Hat nur wenige Seiten, weil die das dann aufgegeben haben, die haben eine Bahnfahrt unternommen, um ihre Freundschaft in ihrer Tiefe zu erforschen, sind dann aber gescheitert, gingen sich ziemlich bald auf die Nerven.
Es begann damit, dass eine Frau auftauchte im Abteil, und der eine sich dafür sehr interessierte, nämlich Max Brod, und der andere so etwas skeptisch blieb. Das war so der Anflug von: Das könnte man ja eigentlich, wenn die das nicht zu Ende gebracht haben, könnte ich das doch als Dritter das zu Ende schreiben. Ich bin aber sehr bald abgekommen von Kafka und Brod, und habe daraus, weil viele andere Einfälle kamen, ein ganz anderes Buch gemacht. – Sten Nadolny
Reflexionen über soziale Medien und eine erbarmungslose Gesellschaft
Es ist ein lebenskluges, melancholisches Buch geworden, das nicht ganz zufällig so heißt wie Eric Rohmers filmische Romanze „Herbstgeschichte“ von 1998. Hat doch jener französische Regisseur gerüchteweise einmal damit geliebäugelt, Nadolnys allererstes Buch „Netzkarte“ zu verfilmen. Es steckt also viel von Sten Nadolnys eigener Lebensgeschichte in diesem Roman, was seine vielen Leser, die ihn seit seinem Millionenseller „Die Entdeckung der Langsamkeit“ verehren, goutieren werden. Genauso, wie sie die in diesen neuen Roman eingewobenen Reflexionen schätzen werden.
Zum Beispiel über unser Leben im Zeitalter der ach so sozialen Medien, in denen oft genug denjenigen die größte Aufmerksamkeit zuteilwird, die sich am lautstärksten über was auch immer empören. Von den Algorithmen befeuert, erzeuge das, so schreibt Nadolny zu Recht, „eine Gesellschaft, die durch ihre Erbarmungslosigkeit immer erbärmlicher“ werde. Es stimmt ja: Es sind einfach zu viele „Empörungsunterhalter“ unterwegs, um es mit einem Begriff aus Sten Nadolnys wunderbarem früheren Roman „Selim oder die Gabe der Rede“ auszudrücken.
Doch Sten Nadolny ist zuversichtlich: „Ich habe trotzdem persönlich die Hoffnung, dass die Gespenster beim Morgengrauen verschwinden, weil wir ernstere Probleme haben. Die werden so ernst werden, dass wir uns mit Scheinproblemen und Scheinempörungen nicht mehr abgeben werden und nicht mehr abgeben können.“