Im November 1986 hatte er es endlich geschafft: 19 Jahre alt war Victor Schefé, als er, wie es amtlich hieß, aus der „Staatsbürgerschaft der DDR entlassen wurde“ – und in den Westen ausreisen konnte. Ein langer Kampf mit den Behörden war beendet. Der junge Mann ging in die Freiheit, über den Tränenpalast an der Berliner Friedrichstraße, diesen bedrückend engen Tunnel, heute eine Gedenkstätte.
Frühzeitige Distanz zur DDR
Über den Tag seiner Ausreise nach Westberlin, den 22. November 1986, sagt Victor Schefé: „Das ist mein zweiter Geburtstag.“ Er erinnert sich an einen überwältigenden Moment, auf den er aber hingelebt habe. „Insofern war alles, was danach kam, nicht so überwältigend. Das hatte ich mir alles schon genauso vorgestellt.“
Victor Schefés autobiografischer Roman „Zwei, drei blaue Augen“ ist mit der Schilderung dieses so besonderen Tages noch lange nicht zu Ende. Die Geschichte führt bis in den Sommer 1990, zu seiner ersten großen Theaterpremiere in Westberlin, im Stück „Der Elefantenmensch“. Und eben auch bis zum Ende der DDR. Zu diesem Staat ging Schefé, Kind einer Radiojournalistin aus Rostock, frühzeitig in Distanz, Schritt um Schritt.
Das Einmaleins mit Panzern
Eindrücklich sind etwa die Schilderungen des Schulunterrichts, das „Schulkackpolitdeutsch“, wie Victor Schefé es nennt. Ebenso die Mathe-Lektionen. „Wir haben das Einmaleins mit Panzern gelernt“, erinnert sich der Schauspieler. „Das ist schon eine Wucht in Tüten!“ Im Rückblick sei ihm noch einmal aufgefallen, wie militaristisch der Unterricht schon in den ersten Schuljahren gewesen sei. Im Text wird aus Schulbüchern zitiert.
Der Roman „Zwei, drei blaue Augen“ wird zudem in unterschiedlichen Zeit- und Textebenen erzählt. Hier der Weg des Kindes, dort das jugendliche Aufbegehren, das Coming-Out und, einfühlsam geschildert, die große Liebe – zu Mikis aus Zypern, den Victor Schefé in Ostberlin kennenlernte und mit dem er zusammen sein und deshalb auch in den Westen gehen wollte. Schließlich gehören viele Akten der Staatssicherheit zur Erzählung, unter anderem aus einer „Operativen Personenkontrolle“, die der Geheimdienst über Schefé anlegen ließ. Der Titel: „Spektakel“.
Anschreiben gegen die Verklärung der DDR
Die Stasi-Akten sind – in ihrer kalten Unmenschlichkeit – in den Romantext montiert. Selbst die Mutter denunzierte Victor Schefé. „Das ist mit den heutigen Werten und Gefühlen und Maßstäben nicht zu begreifen“, sagt der Schauspieler. „Und das ist auch ein Teil des Buches, den ich unbedingt erzählen wollte. Sodass auch die Generation, die nach mir gekommen ist, sich anhand eines echten und eines emotionalen Falles dort hineinspüren kann. Und auch für meine Generation, die da oft etwas verklären will.“
Eine weitere wichtige Dimension im Text: Musik, viel Musik, Tina Turner – für Victor Schefé die eigentliche Englischlehrerin –, die Eurythmics, Suzan Vega, viele andere. Songzeilen durchziehen wie Samples den Text, der Roman ist immer auch eine Playlist. Die erste Lieblingssängerin des Jungen aus Rostock war Nina Hagen, mit dem berühmten Farbfilm-Song. Auch mit ihrer Geschichte, mit ihrem Fortgang aus der DDR, beginnt die Entfremdung des Kindes von einem stets bevormundenden politischen System: „Sie war verschwunden, wurde totgeschwiegen und nicht mehr im Radio gespielt. Spätestens da stolpert man darüber.“
Freiheit im politischen und im allumfassenden Sinn
Victor Schefés Roman „Zwei, drei blaue Augen“ ist eine große, ungewöhnlich erzählte und gelegentlich wilde Meditation über die Freiheit – im politischen und überhaupt im allumfassenden Sinn. Er erzählt von einem Menschen, der sich von einem diktatorischen Staat nicht einschüchtern ließ. Sondern der zu einer unabhängigen Haltung fand und diese für sich bewahren konnte. Auch das war möglich in einem unfreien Land.
Victor Schefés Roman „Zwei, drei blaue Augen“ ist bei dtv erschienen. Am 17. November liest der Schauspieler im Münchner Volkstheater, in einer Kooperation mit Bayern 2.

