Insgesamt rund 850 Gebäude oder Gebäudereste in einst synagogaler Nutzung hat Alex Jacobowitz bundesweit nachgewiesen. Der frühere Kantor an der jüdischen Gemeinde Augsburg hat die Corona-Zeit genutzt, um den einst zahlreichen Synagogen auf deutschem Boden nachzuspüren. Denn damals stellte er zu seinem Erschrecken fest: „Es gibt leider kein Register von Synagogen deutschlandweit.“
„Es gab mehr Synagogen in Berlin als katholische Kirchen“
Der 65-Jährige hat das nun geändert. In seinem aktuellen Buch „100+ Synagogen in Deutschland“ hat er jüdische Gebetshäuser zusammengestellt, die seit über tausend Jahren erhalten geblieben sind; aber auch solche, die umfunktioniert wurden, aber weiterhin das jüdische Erbe erkennen lassen. Außerdem enthält es Synagogen, die von den wiederbelebten Gemeinden erbaut wurden.
Deutlich abzulesen ist darin die Zäsur für die Synagogen-Landschaft, die die Judenverfolgung und Zerstörung des einst florierenden jüdischen Lebens unter Adolf Hitler brachte. Jacobwitz blickt zurück: „Man muss sich vorstellen, dass es vor dem Zweiten Weltkrieg zwölf Synagogen mit 2.000 Plätzen oder mehr in Deutschland gab. Es gab Synagogen in Gefängnissen und Krankenhäusern. Es gab mehr Synagogen in Berlin als katholische Kirchen.“
Rund 2.800 Synagogen – dann kam Hitler
Möglich wurde das mit Gründung des Deutschen Reiches im Januar 1871. In diesem Zuge wurden Juden den Christen gleichgestellt, wenn auch zunächst vor allem auf dem Papier. Wohl aber konnten nun Synagogen gebaut werden, die teilweise sehr groß und prächtig waren. Die Zäsur kam in voller Härte im November 1938 mit der sogenannten Reichspogromnacht: Damals verwüsten die Nationalsozialisten und ihre Mitläufer rund die Hälfte der damals 2.800 Synagogen in ihrem Machtbereich.
Jacobowitz hat ihnen nachgespürt. „Die allerälteste Synagoge, die heute auf deutschem Boden steht, ist in Worms. Und diese Synagoge wurde ursprünglich 1034 gebaut. Das war noch, bevor es ein Deutschland gab!“ Doch auch diese Synagoge fiel den Nazis zum Opfer. Und nach dem Krieg sind die meisten auf deutschem Boden lebenden Juden Flüchtlinge auf der Durchreise, die sich kaum noch um die zerstörten Synagogen kümmern wollten oder konnten.
Und die deutsche Mehrheitsgesellschaft, in Ost wie West, lässt die 1.400 jüdischen Sakralbauten, die die NS-Zeit überstanden hatten, weiter verkommen – oder zweckentfremden. So wird die Synagoge im mittelfränkischen Mühlhausen als landwirtschaftliche Maschinenhalle genutzt. Andere jüdische Bethäuser lässt man einfach verrotten und verfallen.
Heute gibt es bundesweit rund 850 Synagogen und baulich erhaltene Synagogen-Reste von früher. Davon werden allerdings nur rund 120 für Gottesdienste genutzt – darunter auch einige Neubauten. Denn durch die „jüdische Renaissance“ in Deutschland, bedingt durch die Zuwanderung zehntausender russischsprachiger Juden in den vergangenen 35 Jahren, ist der Bedarf an Synagogen stark gestiegen.
Umgang mit Synagogen heute „Lackmustest“
In München engagiert sich etwa die liberale Münchner Gemeinde Beth Shalom seit Jahren für einen Neubau – nach einem Entwurf von Daniel Libeskind. Zumindest digital sind seit Kurzem auch 40 durch die Nazis zerstörte Synagogen wieder auferstanden: Ein Projekt der Technischen Universität Darmstadt [externer Link] hat sie online wieder aufgebaut, sodass Interessierte sehen können, wie imposant die zerstörten Synaogen einst waren.
Trotz aller Aufbruchstimmung: Synagogen-Experte Jacobowitz kennt auch Negativ-Beispiele. Vor gut 15 Jahren muss in Erlangen die kleine jüdische Gemeinde ihren Betsaal an die Rathsberger Straße verlegen, weil sich an der Hindenburgstraße Anwohner vom jüdischen Leben gestört fühlen. Hinzukommen immer wieder Angriffe, Brandstiftungen oder terroristische Anschläge auf Synagogen – wie im Jahr 1994 in Lübeck, im Jahr 2010 in Worms und im Jahr 2019 in Halle. Für Jacobowitz, der aus den USA stammt, ist der Umgang der deutschen Gesellschaft mit ihren Synagogen daher auch ein Lackmustest für die Achtung und den Schutz von religiösen Minderheiten.

